Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 302, K. 07-III

Episode Nr.
70

Im 18. Jh. wandelt sich das hierarchische Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung in ein zirkuläres. Politik und Recht werden zu autonomen Funktionssystemen und bestimmen die Differenz zwischen sich jeweils selbst. Eine Hierarchie kann es nicht geben. Kein Funktionssystem ist „wichtiger“ als ein anderes. Jedes erfüllt eine einzigartige, unverzichtbare Funktion für die Gesellschaft.

Das tradierte Denken wirkt jedoch noch nach: insbesondere die alte iurisdictio-Vorstellung, der nach Gesetzgebung und Rechtsprechung nur zwei Seiten einer einheitlichen Aufgabe des Herrschers wären. Die Erfahrung, dass politische Macht entscheidend dafür gewesen war, ob man sein Recht vor Gericht auch durchsetzen konnte, lässt sich nicht so leicht vergessen.

Der „zivilgesellschaftliche“ Staatsbegriff betont den Unterschied zum Militärischen. Zugleich legt er eine Inklusion der Gesellschaft in die Politik nahe, die im Widerspruch dazu steht, dass sich das politische System gerade operativ gegen die Gesellschaft schließt.

Das Verhältnis zwischen Politik und Recht wird als „Weisungshierarchie“ begriffen, Gerichte als ausführendes Organ der Gesetzgebung. Die Methodik, mit der das Recht zu Urteilen gelangt, wird als Deduktion (Ableitung) aus Gesetzestexten aufgefasst. Unterschätzt wird, dass die Interpretationsfreiheit der Gerichte selbst Recht produziert.

Um Gewaltenteilung zu praktizieren, differenzieren beide Systeme Verfahren und Methodiken aus. Dabei beobachten sie sich gegenseitig. Nicht nur der Richter muss die „ursprüngliche Intention“ des Gesetzgebers aus Gesetzestexten herausinterpretieren können. Auch der Gesetzgeber muss antizipieren, welche Rechtsstreitigkeiten aus Gesetzen entstehen könnten, und wie sich diese ggf. in geltendes Recht einfügen lassen.

Auf diese Weise bestimmen beide Systeme immer deutlicher die Differenz zwischen sich. Wo diese doppelseitigen Bestimmungen nicht konvergieren, irritieren sie sich gegenseitig. Dann muss nachgebessert werden. Allmählich weicht die Hierarchie-Auffassung der Vorstellung eines kybernetischen Zirkels, der sich selbst steuert. Das Verhältnis der Systeme ist zirkulär: Jedes System bestimmt die Differenz zwischen sich und dem anderen System selbst.

In der Formsprache des Mathematikers George Spencer Brown heißt das: Ein Re-entry findet statt, ein „Wiedereintritt der Form in die Form“. Konkret wird die Unterscheidung von Gesetzgebung und Rechtsprechung doppelt, auf beiden Seiten der Unterscheidung wieder eingeführt. Die Politik führt die Unterscheidung auf der Politikseite wieder ein, das Recht auf der Seite des Rechts. Die Differenz muss auf beiden Seiten akzeptabel sein.

In diesem Prozess der Voneinander-Abgrenzung sind Gerichte einem Strauß von Anforderungen ausgesetzt. Sie müssen Gesetze interpretieren. Das beinhaltet, dass sie auch ihre eigene Bindung ans Gesetz ebenso wie die des Gesetzgebers interpretieren müssen. Der Zwang, Entscheidungen zu treffen, macht es möglich, höchstrichterlich von der Politik Gesetzesänderungen zu fordern, wenn eine rechtliche Problemlösung anders nicht befriedigt. Schließlich kann das „Verbot der Justizverweigerung“ zur Norm erklärt und damit verlangt werden, dass Gerichte alle ihnen vorgelegten Fälle selbst entscheiden müssen. Dieser Anspruch wirkt wie das i-Tüpfelchen auf der operativen Schließung gegenüber der Politik.

Anm.: Heute mehren sich allerdings Fälle, in denen der Staat Entscheidungen der Gerichte durch „Nichtanwendungserlass“ torpediert. Die Entscheidung darf dann nur auf den Einzelfall, nicht jedoch auf vergleichbare Fälle angewendet werden. So geschehen z.B. bei der Erbschaftssteuer-Gesetzgebung. Diese wurde vom Bundesverfassungsgericht bereits in zwei Urteilen für verfassungswidrig erklärt. Als Ex-Bundesfinanzminister sorgte Olaf Scholz jedoch mit Nichtanwendungserlassen dafür, dass die Urteile nicht berücksichtig werden dürfen. So „Plusminus“, ARD, 16.8.23, „Erbschaftsteuer bei Immobilien – wie Super-Reiche geschont werden“. Video: https://is.gd/gVohQ2 (verfügbar bis 17.8.24).

Luhmann betont, dass der Entscheidungsrahmen der Gerichte durch eine Trias gezogen wird: Zwang, Freiheit und Einschränkung. Es gibt einen Entscheidungszwang. Dieser eröffnet die Freiheit, nach Begründungen für das Urteil zu suchen. Eingeschränkt wird diese Freiheit durch Gerechtigkeitsgesichtspunkte, die sich das Recht selbst vorgibt; z.B. durch die Norm, gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich zu behandeln.

Obwohl es immer offensichtlicher wird, dass das Rechtssystem autonom ist und Gerichte darin eine besondere Stellung einnehmen, hält sich auch im 19. Jh. das gewohnte Narrativ, die Gesetzgebung stünde über der Rechtsprechung. Die Stellung der Gerichte wird mit alten Denkmustern versucht zu erklären, etwa: Richter würden „Geist und Buchstaben“ des Gesetzes unterscheiden. Rechtstheorien beißen sich an ausufernden Interpretationsmethoden fest, bis es zur Kritik an diesen Theorien kommt. Zwar wird „Richterrecht“ als Rechtsquelle anerkannt. Aber die Hierarchie-Vorstellung hält sich trotzdem. Die Beschreibung der faktischen Veränderungen ist noch in überkommenen Denkmustern verhaftet. Kurz, die „Realität“ weicht von ihrer Beschreibung ab. Als Grund vermutet Luhmann, dass die herausragende Stellung der Gerichte als entscheidungsbefugtes Subsystem innerhalb des Rechtssystems noch nicht ausreichend begriffen wurde.

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