Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 92, K. 02

Episode Nr.
21

Themen sind diesmal: Codes und Programme, Chancen von Protestbewegungen, Verfassungsrecht und normative Wertbegriffe.

Das Rechtssystem unterscheidet zwischen internen Normen und externen Fakten. Mal verweist es auf sich selbst (Selbstreferenz) und zitiert z.B. Gesetzestexte. Mal verweist es auf die Umwelt (Fremdreferenz) und bezieht sich z.B. auf die Wissenschaft. Durch den ständigen Wechsel zwischen beiden Referenzmöglichkeiten unterscheidet es wiederum sich selbst von der Umwelt. Es handelt sich um zwei Unterscheidungen, die nicht identisch sind.

Selbst-/Fremdreferenz lässt sich beobachten: Die Kommunikation schwingt hin- und her. Sie kann einen Schwerpunkt hier oder dort setzen, mal mehr über rechtliche Normen kommunizieren, mal mehr über externe Fakten.

Beachtlich ist die Zeitdimension: Kommunikation löst die gleichzeitige Existenz von System und Umwelt in eine nacheinander erfolgende Bezugnahme auf. Dabei ist es möglich, Zukunfts- und Vergangenheitsperspektiven aufzumachen und Erwartungen zu stabilisieren. Wie eine Perlenkette reiht sich Kommunikation an Kommunikation aneinander.

Durch Bezugnahme auf den Code Recht/Unrecht vollzieht das Rechtssystem seine Autopoiesis (Selbstreproduktion durch Kommunikation). Es stabilisiert seine eigenen normativen Erwartungen und seine operative Geschlossenheit.

Im Gegensatz zum Code sorgen Programme dafür, dass eine Handlung wie ein Rechtsfall vor Gericht abgeschlossen werden kann. Programme sind Regeln, die darüber entscheiden, wie der Code letztlich zugeordnet wird. Sie legen auch fest, inwiefern das System kognitiv offen gegenüber externem Wissen ist. Durch den Code allein wäre kein Abschluss möglich, er garantiert „nur“ laufende Anschlussfähigkeit der Kommunikation.

Erst Programme ermöglichen es, auf der Handlungsebene ein Ziel zu erreichen. Ein Handlungssystem, das sein Ziel erreicht, hat sich jedoch theoretisch selbst beendet. Kommunikation dagegen endet nie. Luhmanns Umstellung von Handlungs- auf Kommunikationstheorie zeigt auf, dass soziale Systeme keinen finalen Zustand anstreben, sondern einen Fluss. Den Prozess gilt es zu beobachten, um daraus Erkenntnis zu schöpfen.

Zu beachten ist auch die Einfachheit des Codes: Er besteht nur aus zwei Werten. Gerade diese nicht mehr reduzierbare Einfalt setzt die Bedingungen für die Vielfalt der Programme. Der Code ermöglicht hyperkomplexe Anschluss- und Verbindungsmöglichkeiten.

Anm.: Armin Nassehi weist in seinem Buch „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ auf Parallelen zur Digitalisierung hin (S. 142-152). Auch das Medium der Computertechnik ist eine binäre Operation des An/Aus von Stromkreisen. Mit diesem simplen Code lässt sich eine Vielfalt von Daten und Programmen erzeugen. Die gesellschaftlichen Folgen sind mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar. Eine nie gekannte Vielfalt von Anschlussmöglichkeiten ist entstanden. Schrift hat die Welt bereits verdoppelt. Nun trifft die Digitalisierung auf diese durch Texte verdoppelte Welt. Durch Daten entdeckt die Gesellschaft Verhaltens- und Kommunikationsmuster, die ihr zuvor verborgen waren. Die Daten können nun durch Texte interpretiert werden, die ihrerseits interpretiert werden können. Zugleich lassen sich aus den Daten neue Daten gewinnen, die man wiederum durch Texte interpretieren und die Interpretationen interpretieren kann. Die ohnehin vorhandene Hyperkomplexität steigt noch einmal um eine nicht bezeichenbare Größe. Für den Umgang damit muss die Gesellschaft erst neue Formen erproben.

Von der kognitiven Offenheit gegenüber der Umwelt kommt Luhmann zur Frage: Können soziale Bewegungen, z.B. Protest, das Recht ändern? Ja, wenn eine Transformation des Themas hinein ins Rechtssystem erfolgt. Dass dies gelingen kann, beweisen zahlreiche Themen, wie z.B. Rassendiskriminierung, Emanzipation. Das Recht wählt jedoch selbst die Formen, wie es auf veränderte Erwartungen der Gesellschaft „reagiert“. In seiner Formfestlegung ist es autonom.

In Abschnitt VII über operative Geschlossenheit geht es nun ums Verfassungsrecht:

Verfassungsrecht ist eine Verlängerung des Rechtssystems auf der Meta-Ebene, wodurch es wie „höheres“ Recht erscheint. Auf Basis gegenwärtiger Normen muss es immer wieder neu interpretiert werden. Es nennt zwar Werte, aber keine durchgreifende Regel, wie Wertkonflikte zu lösen wären. D.h., es setzt voraus, dass ein funktionierendes Rechtssystem diese Aufgabe erledigt. Es verweist nach innen ins System. Indem alle Operationen durch den Code verfassungsmäßig/verfassungswidrig gefiltert werden müssen, garantiert es Selbstreferenz und damit operative Geschlossenheit und Selbstreproduktion.

Es ist ein Prinzip, dass Verfassungsrecht nicht identisch mit Weltanschauungen ist. (Luhmann spricht von Nicht-Identität, wobei Identität kein Grundbegriff der Systemtheorie ist. Denn Identität setzt das Subjekt voraus, was bei Luhmann durch die Differenz von System und Umwelt ersetzt wurde.) Der Begriff „Pluralität“ erscheint als Kunstgriff: Pluralität drückt aus, dass das Recht vielfältige politische, moralische, ideologische usw. Anschauungen akzeptiert, ohne diese zu bewerten.

Anm.: „Pluralismus“ wird typisch auch im System der Massenmedien verwendet. Die Gefahr ist hier, dass vielfältige Weltanschauungen nur in einem zuvor unsichtbar eingegrenzten normativen Rahmen zugelassen werden. Durch strukturelle Ausgangsvoraussetzungen, die in Debatten nicht mitthematisiert werden, sind bestimmte Gesellschaftskonzepte von vornherein exkludiert. Nur innerhalb dieses Rahmens ist dann eine „vielfältige“ Diskussion möglich.

Um Pluralität zu wahren, bezieht sich das Verfassungsgericht auf normative Wertbegriffe. Es interpretiert die Grundrechte in Wertprogramme um, damit es die Entwicklung zum zweckprogrammierten Wohlfahrtsstaat juristisch kontrollieren kann. (Wohlfahrtsstaat meint, in aller Kürze: Steigerung des Wohlergehens aller. Im Gegensatz dazu meint der heute von den Massenmedien häufiger verwendete Begriff „Sozialstaat“ Hilfe für Bedürftige unter Bedingungen.)

Normative Wertbegriffe werden ansonsten heute kaum noch verwendet. Für die Autopoiesis der Funktionssysteme spielen sie nur eine schmückende Rolle, in der Philosophie haben sie abgedankt. Eine Ausnahme bilden Parteiprogramme. Luhmanns pointierte Kritik daran lautet, dass sich Parteien mit normativen Wertbegriffen Legitimität verschaffen, ohne sagen zu müssen, wie sie Wertkonflikte lösen würden. D.h. sie halten sich alle Entscheidungen frei. Im Gegensatz zur Politik bindet sich das Recht an seine eigenen richterlichen Entscheidungen und entscheidet in sehr viel höherem Maße konsistent.

Sowohl Parteien als auch dem Rechtssystem attestiert Luhmann Trägheitseffekte: Man verbleibt bei eingeübten Formen, wie man Unsicherheit absorbiert: bewährten Kommunikationsformen, bekannten Konfliktlinien, bereits eingegangenen Risiken. Das Entwicklungspotenzial wird nicht ausgeschöpft.

Anm.: Der Ton rumpelt diesmal manchmal ein bisschen. Wir bitten um Entschuldigung und versprechen, während der Aufnahme nicht mehr Murmeln zu spielen.

 

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