Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 328, K. 07-VII

Episode Nr.
76

In der geschichteten Gesellschaft hatten Adel und Volk nicht die gleichen Rechte. Infolge des Justizverweigerungsverbots entfallen solche gesamtgesellschaftlichen Vorgaben für die Rechtsentscheidung. Gerichte ersetzen sie durch Vorgaben, die sie autonom definieren können und die ausschließlich ihrer Funktion dienen: Profession und Organisation.

Die „gottgebene“ Schichtung der Ständegesellschaft ist kein Entscheidungskriterium mehr. Das Gericht ersetzt derlei Vorgaben durch selbst bestimmbare Vorgaben: Organisation und Profession werden entscheidend dafür, wer wie unter welchen Bedingungen „Mitglied“ des Gerichtssystems werden kann und wie Entscheidungen herbeizuführen sind.

Beide Vorgaben sind funktional orientiert. Sie dienen der Autopoiesis und damit der Autonomie. Das Gerichtssystem organisiert seine Kommunikation selbst – in Form von Behörden, Ausbildungsbedingungen, Kompetenznachweisen, Selbstaufsicht etc.

Evolutionär war diese Entwicklung riskant. Immerhin wurde die Rechtsentscheidung von einer Vorgabe abgeschnitten, die jahrtausendelang das Weltbild geprägt hatte. Auch wenn es Kritik gibt, die bezweifelt, dass Gerichte unabhängig vom sozialen Ansehen entscheiden würden – es bleibt die soziologische Frage: Welche sozialen Einrichtungen waren nötig, um eine derartige Autonomie zu behaupten und abzusichern?

Als Voraussetzungen kann man feststellen: Profession und Organisation. Aber was bedeutet das? Die Theorie sozialer Systeme bricht diese Begriffe auf die operationale Ebene herunter: Beides sind Operationen, die durch Kommunikation ausgeübt werden.

Die Kommunikation ist funktional, sie dient der Grenzziehung zwischen Gerichtssystem und Umwelt. Indem das Gerichtssystem laufend eingrenzt, was professionell/unprofessionell ist, reproduziert es sich selbst. Der Begriff der Autopoiesis wird hierin erneut greifbar: Wie jedes soziale System, reproduziert auch das Gerichtssystem alle Kommunikationen, aus denen es besteht, ausschließlich selbst.

Wie man RichterIn werden kann, was als professionell zu gelten hat, all das kann das Gericht selbst definieren und laufend internen Bedürfnissen anpassen. Die gesamtgesellschaftliche Vorgabe der Schichtung wird durch systeminterne Vorgaben ersetzt: Es braucht juristische Kompetenz, um Rechtsentscheidungen zu treffen.

Durch Kompetenz wird dann auch die Frage entschieden, welche Organisationen ein Gerichtssystem braucht, welche Rollen es gibt und wie diese Organisationen zu arbeiten haben. Das System reguliert sich selbst und zwingt sich zur Selbstbeobachtung. Es gibt eine Dienstaufsicht. Es definiert, wie viel erledigt werden muss. Es koordiniert zeitliche Abläufe durch Termine. Die Interaktion im Gerichtssaal bedeutet Kommunikation unter Anwesenden und ist durch selbst entworfene Verfahrensregeln festgelegt. Der Umgang mit Fehlern ist systemintern reglementiert. Interne Streitigkeiten werden durch Argumentation gelöst, die wiederum professionell sein muss. Wer welche Positionen, Einkommen und Karrierewege einschlagen kann, wird ebenso durch Kommunikation definiert. Profession ist die Voraussetzung für Organisation.

Karrierefragen werden durch Selbst- plus Fremdreferenz entschieden. Zwei Perspektiven müssen miteinander abgeglichen werden. Dies mag sich systemintern auf das Verhalten von RichterInnen auswirken. Die Umwelt könnte aber ihr Verhalten nicht „steuern“. Ein negatives Presse-Echo auf ein Urteil würde nichts am Gehalt, an der Position und an der Rechtsgültigkeit der Entscheidung ändern. RichterInnen können nicht für die Folgen ihrer Entscheidung verantwortlich gemacht werden! Durch Organisation wird dieses Risiko abgedeckt. Organisation ermöglicht Unverantwortlichkeit für die Folgen von Entscheidungen.

Profession und Organisation sind also funktional äquivalent. Durch Profession kann das Gericht autonom entscheiden. Autonomie macht es möglich, regional unterschiedliche Formen von Ausbildungen, Organisationen und Mitgliedschaftsbedingungen zu entwickeln.

Profession ist in der funktional differenzierten Gesellschaft eine oft bestaunte Ordnungsform des sozialen Lebens geworden. Hochgradige Spezialisierung ermöglicht RichterInnen ein Expertenprestige, das es erlaubt, aus dieser professionellen Perspektive zu entscheiden.

Zugleich sichert Profession ab, dass Streit unter JuristInnen professionell, also friedlich zu verlaufen hat. Sowohl AnwältInnen als auch RichterInnen bereiten den Ablauf des Rechtsstreites formal vor. Dabei geht es nicht nur darum festzulegen, worüber man streiten will, sondern auch darum, worüber nicht. (Ganz allgemein besteht ein Teil der juristischen Arbeit in dieser sog. Kautelarpraxis: Es gilt, Streit vorsorglich zu vermeiden, indem Texte wenig Angriffsfläche bieten. Wie man etwa am „Kleingedruckten“ in Verträgen sehen kann.)

Die Professionalität der Kommunikation über Entscheidungen federt das eigentliche Entscheiden ab: Es schützt vor externen Einflüssen. So sorgt auch die starke Formalisierung des Verfahrens dafür, dass nur gerichtlich zugelassene Argumente berücksichtigt werden, aus denen sich dann geradezu „logisch“ eine Entscheidung ableiten lässt.

Auch der Spielraum für Protest ist durch Professionalisierung begrenzt: Er muss sich auf diejenigen Aspekte beschränken, die das Gericht als relevant herausgreift.

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