Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 333, K. 07-VII

Episode Nr.
77

Letzter Abschnitt über die Stellung der Gerichte im Rechtssystem: In einem primär funktional ausdifferenzierten System können auch andere Differenzierungsformen fortbestehen oder sich bilden. So gibt es in Politik, Wirtschaft und Recht je ein Entscheidungszentrum aus Staat, Banken und Gerichten. Nur in diesen Zentren finden wir noch eine weitere Ausdifferenzierung durch Hierarchie vor. In der Peripherie gibt es diese Hierarchie nicht.

Die moderne Gesellschaft ist primär funktional differenziert: Globale Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht erfüllen als jeweils autonome Kommunikationssysteme unverzichtbare Funktionen für die Gesellschaft.

Neben dieser dominanten Differenzierungsform können andere Formen gleichzeitig bestehen. Im Rechtssystem finden wir eine Differenzierung von Zentrum/Peripherie vor. Gerichte haben dort das Entscheidungszentrum gebildet. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass funktionale Differenzierung, wenn sie einmal bestimmend ist, auch andere Differenzierungsformen zu neuer Blüte bringen kann.

Diese Annahme überprüft Luhmann, indem er analysiert, welche Differenzierungsformen wir in Wirtschaft und Politik vorfinden, also: über die primär funktionale Differenzierung hinaus.

In der Wirtschaft stoßen wir auf ähnliche Strukturen. So wie Gerichte diverse Paradoxien des Rechtssystems managen (zum Beispiel, dass sie, um Recht zu sprechen, selbst „Richterrecht“ erzeugen), managen Banken Widersprüche des Wirtschaftssystems. Etwa, dass jede Geldzahlung gleichzeitig Zahlungsfähigkeit (beim Empfänger) und Zahlungsunfähigkeit (bei dem, der zahlt) erzeugt. Diese Paradoxie managen Banken, indem sie Zeitdifferenzen gewinnbringend nutzen: Sie vergeben Kredite, die allmählich mit Zinsen zurückgezahlt werden müssen. Ebenso bringen Einlagen während der vereinbarten Anlagezeit Zinsgewinne.

Allen Geschäften zugrunde liegt ein Zahlungsversprechen. Also ein Risiko, da man nie weiß, ob sich die Erwartung in der unvorhersehbaren Zukunft erfüllen wird. Die Geldtheorie hatte den Faktor Zeit bei der Vermehrung der Geldmenge lange vernachlässigt.

Eine weitere Paradoxie, die Banken im Zusammenspiel mit der Zentralbank managen, besteht darin, die Geldmenge im System mal als konstant, mal als variabel zu behandeln.

Im Unterschied zu Gerichten sind Banken aber eher Abschluss der funktionalen Ausdifferenzierung der Wirtschaft als System. Depositenbanken etwa, bei denen der Kunde der Bank Kredit gewährt durch Einlagen wie „Termingeld“, sind eine relativ junge Organisationsform. Im Gegensatz dazu markierte die Entstehung von Gerichten den Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechtssystems. Beide Systeme sind in ihrer Selbstreproduktion (Autopoiesis) jedoch gleichermaßen von außen nicht mehr steuerbar; was man besonders an den Finanzmärkten bestaunen kann.

Im Wirtschaftssystem bilden Banken das Zentrum. Indem sie als Subsystem im System Finanzierungszusammenhänge (zeitlich) managen, ermöglichen sie es der „Restwirtschaft“, ihre selbst erzeugte Komplexität zu managen. Produktion, Handel und Konsum bilden die Peripherie. Die Voraussetzung dafür, dass sich Banken als Zentrum herausbilden konnten, war, dass man bereits zirkulär vernetzt war. Genau wie sich Gerichte dann intern hierarchisch differenziert haben, haben sich Banken intern hierarchisch differenziert, vor allem in Zentralbank und Geschäftsbanken. Im Vergleich dazu sind Produktion und Handel nicht hierarchisch differenziert. (Allenfalls auf Organisationsebene.)

Auch im politischen System finden sich Parallelen. Die Staatsorganisation bildet das Entscheidungszentrum. Ihre soziale Funktion ist es, kollektiv bindende Entscheidungen (Gesetze) zu erlassen und dafür die nötige Kapazität bereitzuhalten. Zu den Paradoxien, die der Staat managen muss, gehört es, als „Souverän“ selbst ans Gesetz gebunden zu sein – andererseits aber auch nicht, weil er das Gesetz ja ändern kann. Ähnlich wie im „Richterrecht“, wird dieser Widerspruch durch intern bindende Verfahrensregeln gemanagt. Zeit wird auch hier genutzt: Gesetze zu ändern ist ein zeitaufwändiges Verfahren.

Im 18. Jahrhundert galt noch die Vorstellung, der Staat wäre die „Zivilgesellschaft“. Im 19. Jahrhundert dann: „das politische System“ als Einheit. Legt man jedoch das Zentrum-Peripherie-Schema an, wird deutlich, dass der Staat das Zentrum darstellt. Alle anderen politischen Kommunikationen gehören zur Peripherie: Parteien, Interessenorganisation, Konsensbeschaffung. Die Zivilgesellschaft ist dabei Umwelt, kein Systembestandteil.

Ein Zentrum ist ein Entscheidungszentrum. Markiert wird die Differenz von Zentrum und Peripherie durch Ämter (also auf Funktionsebene!). Ämter sorgen dafür, dass nur das Zentrum bestimmte Entscheidungen treffen kann. Nur die Zentralbank kann den Leitzins erhöhen, nur Gerichte Recht sprechen, nur der Staat Gesetze erlassen. Erst die Differenz ermöglicht Autonomie des Systems. Sie schützt das Zentrum vor Überlastung durch nicht bewältigbare Aufgaben (die in die Peripherie abgeschoben werden), und sie garantiert dadurch Demokratie- und Rechtsstaatsvorstellungen. Dürfte auch die Peripherie Gesetze erlassen, Recht sprechen oder den Geldmarkt regulieren, kann man sich das Ergebnis wohl nur als Chaos vorstellen.

Zentrum/Peripherie-Differenzierung bildet also eine wiedererkennbare Form in operativ geschlossenen Funktionssystemen. Sie scheint „primitiver“ zu sein als funktionale Differenzierung, weil sie Hierarchie (im Zentrum) zulässt und an die Vormoderne erinnert.

Tatsächlich aber benutzen die „modernen“ Funktionssysteme diese Form nur, um ihre primär funktionale Differenzierung und ihre Autopoiesis aufrechtzuerhalten. Die oft gesuchte „Einheit“ des Systems wird vielleicht am ehesten dadurch „repräsentiert“, dass die Systeme sich auf diese Weise intern ausdifferenzieren. Denn erst im Zusammenspiel von Zentrum/Peripherie können sie ihre sozialen Funktionen voll entfalten.

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