Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 170, K. 04

Episode Nr.
36

Die Regelung von Schuldverhältnissen (obligatio: Verpflichtung) entwickelte sich im Römischen Zivilrecht zu einer der wichtigsten Kategorien. Die Entstehungsanlässe dürften Delikte und Verträge gewesen sein, die als Unrecht empfunden wurden. Folglich bedurfte es einer klaren Trennung zwischen Recht und Unrecht. Einmal vorhanden, wurde diese scharfe Unterscheidung im Lauf der Geschichte in Europa auf immer mehr Fragen angewendet. Die ursprüngliche Paradoxie des Rechts jedoch blitzte immer wieder durch. Sie konnte erst durch Konditionalprogramme aufgelöst werden. Dafür zwei Beispiele.

Beispiel eins ist die Figur des Risikos. Wenn rechtmäßiges Verhalten einen Schaden erzeugt, kann das Verhalten nicht nachträglich für unrechtmäßig erklärt werden. Es wäre paradox, dass etwas Rechtmäßiges Unrecht sein könnte. Um das Unlösbare aufzulösen, mussten erst Konditionalprogramme entwickelt werden. Diese stellen Wenn-dann-Bedingungen sowohl für rechtmäßiges als auch für unrechtmäßiges Verhalten auf. Lösung: Das Rechtsinstitut der Gefährungshaftung machte die Übernahme einer Haftung für etwaige Schäden zur Bedingung dafür, dass riskantes Verhalten rechtlich abgesichert sein kann. D.h.: Neue Unterdifferenzen (Risiko, Haftung) ermöglichen es, von diesen Begriffen ausgehend konkrete Wenn-dann-Regeln aufzustellen, wie in welchem Fall zu verfahren ist.

Beispiel zwei ist die paradoxe staatliche Duldung rechtswidrigen Verhaltens. Noch im 19. Jh. galt ein „Nachlassen von der absoluten Rechtsforderung“, um den Frieden zu erhalten, als Staatsräson. Dabei handelt es sich jedoch um ein Zweckprogramm („um zu“) und eben nicht um ein Konditionalprogramm („wenn, dann“). Das untaugliche Zweckprogramm mutete dem Recht die Paradoxie zu, sich selbst abzulehnen bzw. zu sabotieren. Recht sollte demnach Unrecht für rechtens erklären. Erst durch das Einziehen von Konditionen konnten Regel-Ausnahme-Schemata definiert werden, die anhand neuer Begrifflichkeiten genau festlegen, unter welchen Bedingungen etwas Recht und unter welchen Bedingungen etwas Unrecht sein kann. Ein Beispiel wäre hier der „zivile Ungehorsam“.

Auf das eigene System wirken Konditionalprogramme dynamisierend. Es kann sich an seinen eigenen Programmen, d.h. Bedingungen, Kriterien und Kategorien orientieren, ohne erst ein Urteil abwarten zu müssen. Es wird von diesem Zeitpunkt des Urteils unabhängig.

Die Paradoxie des Rechts bleibt jedoch immer vorhanden. Sie wird „nur“ durch Konditionalprogramme immer neu aufgelöst. So wird die Paradoxie selbst zu einem kreativen Prinzip: Um sie zu entfalten, muss das System laufend neue Programme entwickeln, in denen es Ausnahmen von Normalregeln definiert.

Dies gelingt abstrakt gesagt durch das Einziehen neuer Unterbegriffe auf beiden Seiten der Recht/Unrecht-Differenz und das Hinzufügen von neuen Kategorien, mit denen man dann operieren kann. Kurz, mit dem binären Code irritiert sich das System dauerhaft selbst. Es geht damit selbst ein Risiko ein, weil es seine existenzbegründende Paradoxie immer wieder rechtmäßig auflösen muss. Durch Konditionalprogramme löst es das Problem.

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