Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 131, K. 03

Episode Nr.
28

Anstatt eine sachliche Definition des Rechts auf der Ebene konkreter Themen und Inhalte zu suchen, fragt die Theorie sozialer Systeme, welche Funktion das Recht für die Gesellschaft einnimmt. Hier landet man bei dem Faktor Zeit.

Die Funktion des Rechts besteht darin, normative Erwartungen an die Zukunft zu stabilisieren. Was erwartbar ist, wird rechtlich verallgemeinert und reguliert. Es gilt, bis es aufgehoben wird. Sowohl in der Sozial- als auch in der Sachdimension erhöht sich so die Erwartungssicherheit.

Dabei geht die Theorie sozialer Systeme davon aus, dass ein Funktionssystem nur eine Funktion erfüllt. Gerade die Beschränkung hat dazu geführt, dass sich das Recht als System ausdifferenzieren konnte. Man kann zwar beliebig viele Bezugsprobleme zwischen Recht und Thema XY auflisten. Aber solche Verbindungen sind willkürlich herstellbar. Sie erklären nicht die gesellschaftliche Funktion. Diese liegt den Bezugsproblemen zugrunde.

Anders gesagt: Gäbe es keine normativen Erwartungen an das Recht, müssten wir in jeder Situation neu abschätzen, worauf wir in Zukunft vertrauen sollen. Erst Normen schaffen Vertrauenssicherheit.

Diese funktionale Definition hat Auswirkungen auf den Normbegriff. Normen definiert Luhmann durch die Unterscheidung von Verhaltensmöglichkeiten zu zwei Zeitpunkten:

Zum einen besteht die Funktion der Norm darin, vorausschauend zwischen Verhaltensmöglichkeiten unterscheiden zu können. Man kann jetzt normativ erwarten, dass sich eine Erwartung zukünftig erfüllen wird. Oder man kann kognitiv erwarten, dass Enttäuschung droht, weil die Beobachtung der Umwelt dies nahelegt. Je nachdem, was man für wahrscheinlicher hält, wird man sein Verhalten anpassen. Dabei wird die jeweils andere Möglichkeit immer mitantezipiert.

Entscheidet sich dann zum späteren Zeitpunkt, dass die Erwartung sich erfüllt hat oder nicht, hat man erneut die Option, bisherige Erwartungen beizubehalten oder aufzugeben. Kurz, Normen ermöglichen es einzuschätzen, was zukünftig erwartbar ist und, sobald Klarheit herrscht, seine Erwartungen erneut anzupassen.  

Die Funktion der Norm besteht also darin, Verhaltenserwartungen kontrafaktisch zu stabilisieren. Verhalten wird erwartbar, obwohl mit etwas anderem zu rechnen ist. Z.B. lässt sich erwarten, dass der Kunde zahlt, obwohl es Fakt ist, dass er dies lieber nicht täte. Normen garantieren zwar kein normgerechtes Verhalten. Sie schützen aber diejenigen, die dies erwarten.

Die Einschätzung, ob man im Rechtssinne erwartet, wird durch Sanktionen unterstützt. Sie sind ein Instrument, um die Erwartungen zu stabilisieren, jedoch keineswegs die Funktion.

Als Begriff ist die „Norm“ selbst bereits das Ergebnis einer Unterscheidung, nämlich der Differenzierung zwischen „normalem“ und davon abweichendem Verhalten. Der Begriff bezeichnet jedoch nur die positive Seite der Unterscheidung. Nur wenn mit dem Begriffspaar in der Kommunikation unterschieden wird, lässt sich der Normbegriff überhaupt empirisch beobachten. Nur dann lässt sich beobachten, dass es und welche Normen es gibt. Kurz, der Normbegriff ist das Resultat eines Beobachters, der eine Unterscheidung beobachtet.

Ähnlich wie mit Sanktionen verhält es sich mit der Rechtsdurchsetzung. Sie stabilisiert nur, dass ein Verhalten erwartbar ist. Sie ist aber keine Funktion des Rechts.

Ebenso wenig ist Verhaltenssteuerung die Funktion. Steuerung ist eine Konsequenz dessen, dass das System seine Funktion ausübt. Nur um Erwartungen zu stabilisieren, schränkt das Recht Verhaltensmöglichkeiten ein, erweitert sie oder befähigt zu Verhalten, das ohne Recht gar nicht möglich wäre (z.B. als GmbH agieren zu können).

Normen sind demnach die Form, mit der autopoietische Systeme Erwartungen stabilisieren. Funktionssysteme konnten sich aus der Gesellschaft ausdifferenzieren, weil es problematische Erwartungen gab, für die sie als Lösung auftraten.

 

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