Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S.79, K.02

Episode Nr.
18

Welche Rolle spielt Moral im Rechtssystem? Und wie reagiert das Recht, wenn es durch Gewalt ausgehebelt wird?

Im Rechtssystem ist konsistentes Entscheiden die oberste Norm: Gleiche Fälle müssen gleich und ungleiche Fälle ungleich beurteilt werden. Es wird normativ erwartet, dass dies so geschieht. Insofern ist das Rechtssystem normativ geschlossen.

Zu den normativen Erwartungen gehört jedoch auch, dass es in der Lage ist, seine normativen Erwartungen zu ändern. Es wird erwartet, dass das Rechtssystem kognitiv offen und lernfähig ist. Insofern ist es auch für moralische Diskussionen offen.

Dass etwas als unmoralisch beurteilt wird, löst jedoch keine unmittelbaren Rechtsfolgen aus. Moralische Urteile müssen hinter den Rechtsprinzipien zurückstehen, denn Moral ist eine Perspektivfrage. Die Möglichkeiten, etwas moralisch zu beurteilen, sind unendlich. Auf dieser Grundlage könnte niemals ein juristisches Urteil gefällt werden.

Das Zusammenspiel von normativen und kognitiven Erwartungen lässt sich in der Kommunikation beobachten, und zwar auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Normative Erwartungen äußern sich, wenn das System sich auf sich selbst und seine Normen bezieht (Selbstreferenz). Kognitive Erwartungen sind erkennbar, wenn es sich auf die Umwelt bezieht (Fremdreferenz) und Lernfähigkeit auch in Bezug auf seine normativen Erwartungen beweist. Eine Änderung grundlegender Normen wäre ein Paradigmenwechsel.

Auf diese Weise prozessiert die Kommunikation im System voran. Die Selbstreproduktion (Autopoiesis) des Rechts vollzieht sich durch rekursive Vernetzung: Kommunikation folgt auf Kommunikation, Sequenz auf Sequenz. Und dies immer durch den Filter, ob es sich um rechtmäßiges oder rechtswidriges Verhalten handelt.

Normative Erwartungen werden so einem ständigen Praxistest unterzogen. Das System stellt seinen eigenen Normzusammenhang laufend her und hinterfragt ihn.

Vor politischer Gewalt ist es dabei bedingt gefeit, wie die Historie zeigt. Ein politisch korrumpiertes Rechtssystem verwendet den Code Recht/Unrecht nur dem Anschein nach weiter. Dem Code wird jedoch eine politisch motivierte Unterscheidung vorgeschaltet, z.B. die Frage, ob ein Gesetz in bestimmten Fällen überhaupt angewendet werden soll. Eine solche Vorprüfung ermöglicht Rechtsbrüche bei gleichzeitigem Anschein eines funktionierenden Rechtssystems.

Im Nationalsozialismus wurde Unrecht für Recht erklärt. Unangetastet blieb jedoch der §1 des Gerichtsverfassungsgesetzes, das die richterliche Gewalt für unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen erklärte. Daraus könnte man die Frage ableiten: Galt damals nun das Recht oder nicht? Sie ist jedoch klar damit zu beantworten, dass nur aus der politisch korrumpierten Perspektive der Nationalsozialisten das Recht damals Geltung hatte, aus heutiger Perspektive war das Recht völlig ausgehebelt. Luhmann weist in einer Fußnote darauf hin, dass es auf politische und nicht auf rechtstheoretische Wachsamkeit ankommt.

Ein derartiger Rechtsbruch bleibt im System immer sichtbar: Er geht mit in die Geschichtsbücher ein.

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