Hannah Arendt - Über das Böse

1965 hielt Hannah Arendt an der New Yorker „New School for Social Research” eine 4-tlg. Vorlesung über Fragen der Moralphilosphie. Darin arbeitete sie ihre Erfahrungen als Berichterstatterin beim Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem auf.

Den Schwerpunkt richtete sie auf Fragen, die individuelles Betragen und Verhalten betreffen, auf die wenigen Regeln und Normen, aufgrund derer Menschen gewöhnlich Recht von Unrecht unterscheiden. Es sind dies die Regeln, die zu Hilfe gerufen werden, um Andere und sich selbst zu beurteilen oder zu rechtfertigen und die für jede normale Person entweder als Teil göttlichen oder natürlichen Gesetzes selbstverständlich gültig waren. Und zwar solange, bis all dies ohne große Vorwarnung über Nacht zusammenbrach. Wie unheimlich und wie erschreckend schien es plötzlich zu sein, dass ausgerechnet Begriffe wie Moral niemals etwas anderes gemeint haben sollten als Gebräuche und Gewohnheiten.

Nietzsches Suche nach „neuen Werten“ war ein klares Zeichen für die Entwertung dessen, was man seiner Zeit „Werte“ und früher „Tugenden“ nannte. Bei seinem Vorschlag handelt es sich nicht um die Proklamation „neuer Werte“, sondern um die Negation der Moral als solcher. Arendt sieht Nietzsches bleibende Größe darin, dass er zu zeigen wagte, wie schäbig und bedeutungslos Moral geworden war.

Bei der moralischen Verurteilung der Nazi-Verbrechen wird übersehen, dass das, was moralisch wirklich zur Debatte steht, nicht das Verhalten der überzeugten Nazis ist, sondern das Verhalten derjenigen, die sich nur „gleichschalteten“ und nicht aus Überzeugung handelten. In jeder Gemeinschaft gibt es eine Reihe von Kriminellen, doch damit werden für Arendt noch keine ethischen Probleme aufgeworfen. Erst dort, wo die Moral auch bei den gewöhnlichen Leuten aussetzt, bei Leuten, die sich, solange moralische Normen gesellschaftlich anerkannt waren, niemals hätten träumen lassen, dass sie an dem, was sie zu glauben gelehrt worden waren, hätten zweifeln können. Und als sich Hitlers Niederlage abzeichnete, kehrte man schnell zur Normalität zurück. Für Arendt bedeutete dies den totalen Zusammenbruch einer „moralischen“ Ordnung gleich zweimal hintereinander.

Im Gerichtsverfahren gegen Eichmann argumentierten die Kläger, dass die Mörder des NS-Regimes sich in keiner Weise von normalen Mördern unterschieden und aus den gleichen Motiven gehandelt hätten. Es kam jedoch heraus, dass diese Leute keine gewöhnlichen Verbrecher waren, sondern ganz normale Zeitgenossen, die mit mehr oder weniger Enthusiasmus Verbrechen begangen hatten, einfach weil sie taten, was man von ihnen verlangte.

Die Moralphilosophie von Sokrates bis Kant war sich darin einig, dass es dem Menschen unmöglich sei, vorsätzlich schlechte Dinge, das Böse um des Bösen willen zu tun (das „radikal Böse“). Es wurde angenommen, dass jeder im Besitz dessen ist, was Kant „das moralische Gesetz an sich“ nannte. Moralische Sätze wurden für selbstverständlich gehalten – und ebenso selbstverständlich deren unausweichliche Sanktion: die gerechte Rache Gottes (Nemesis), die Ächtung einer auf Vernunft gegründeten Gemeinschaft (Strafe) oder des bloßen Gewissens (Reue). Im Denken Kants droht das Gewissen mit Selbst-Verachtung, im Denken Sokrates’ droht der Selbst-Widerspruch oder Selbst-Verlust.

Als Folge der Säkularisierung ist die Nemesis als Sanktion nicht mehr zu fürchten. Die Möglichkeit eines kollektiven Versagens lässt auch die Ächtung der Gemeinschaft als zu fürchtende Sanktion ausscheiden. So bleibt am Ende nur die Reue, die Selbst-Verachtung oder der Selbst-Widerspruch, als Sanktion für unmoralisches Handeln und als Garant für eine moralische Ordnung der Gesellschaft übrig.

Das Gewissen beruht auf dem Unterschied des Ich und des Selbst, dem sich reflektierenden Ich. Das Ich erlebt sich selbst als ein Anderes; dieses Verhältnis des Ich zum Selbst kann als Harmonie oder Disharmonie erlebt werden. Wenn ich handle, bin ich mein eigener Zeuge. Ich erkenne den Täter (da ich das moralische Gesetz in mir trage) und bin dazu verdammt, mit ihm zusammenzuleben, obwohl ich ihn verachte. Die Philosophie kennt den Schurken nur als jemanden, der reumütig und verzweifelt ist.

Und darin besteht nach Arendt ein großer Irrtum, denn die größten Übeltäter sind jene, die nicht reflektieren, die sich nicht erinnern und auf das Getane niemals Gedanken verschwenden und deshalb auch keinerlei Reue empfinden. Ohne diese Erinnerung kann auch das Gewissen und somit nichts mehr sie zurückhalten.

Für Hannah Arendt ist die Philosophie dem Problem des Bösen ausgewichen, indem sie das Böse als radikal Böses gedacht hat, welches sich selbst negiert. Die Annahme war: Niemand kann etwas Böses wollen, ohne zugleich befürchten zu müssen, dass sich das Böse auch gegen ihn selbst richtet, was sicherlich niemals beabsichtigt ist. Die Philosophie hat das Böse als etwas gedacht, das seinen Widerspruch in sich selbst trägt, das sich selbst vernichtet. Allerdings ist Voraussetzung dieser Selbst-Negation des Bösen ein reflektierendes Denken und Erinnern, was eigentlich nur die Voraussetzung der Philosophie selbst ist.

Das wahrhaft Böse ist nach Arendt nicht radikal, sondern banal. Es ist gedankenlos, gleichgültig, dumm und leer. Eben darin zeigt sich die Schuld Eichmanns, dass er den Anschein erweckte, zu keinerlei moralischen Beurteilung seiner Beteiligung an millionenfachem Mord fähig zu sein, die Stirn zu haben, sich in allen Anklagepunkten als unschuldig zu bezeichnen und zu glauben, sich herausreden zu können, wobei er auf das Verständnis des Gerichtes und der Zuhörer hoffte, was erneut seine Gleichgültigkeit und Missachtung der Opfer und ihrer Angehörigen zum Ausdruck bringt.

Arendt lobt die Sokratische Moral: Sie ist hauptsächlich damit befasst, Böses zu vermeiden, während die auf das Vermögen des Willens gegründete christliche Ethik sich ganz darauf ausrichtet, Gutes zu tun.

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