Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 110, K. 02

Episode Nr.
24

Das Gleichheitsprinzip im Recht besagt, dass gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich behandelt werden – nach systeminternen Normen. „Gleichheit“ ist maximal abstrakt: Wenn etwas gleich ist, ist dies evident. Es kann nicht tiefer hinterfragt werden.

Diese Gleichbehandlung erstreckt sich auf alle Fälle, denn auch ungleiche Fälle werden gleichermaßen ungleich behandelt. Auf diese Weise vollzieht das Recht seine Autopoiesis und erzeugt Gerechtigkeit.

Nach „Rechtsgeltung“ ist das Gleichheitsprinzip somit ein weiterer Ausdruck für die operative Geschlossenheit des Rechtssystems gegenüber seiner Umwelt.

Gleichheit/Ungleichheit ist eine Zwei-Seiten-Form. Beide Werte bedingen sich gegenseitig. Eine Präferenz ist darin nicht enthalten, ebenso wenig wie eine Aussage darüber, was verglichen werden soll. Die Norm hingegen, dass Fälle gleichbehandelt werden, wird erst durch die Unterscheidung zwischen Gleichheit und Ungleichheit im kommunikativen Prozess hergestellt: Durch Vergleichen entdeckt man Ungleichheiten und gelangt zu der Frage, wie diese zu behandeln sind. Von diesem Punkt aus lassen sich dann Regeln, Regel-Ausnahme-Schemata und Kriterien entwickeln. Der Gleichheitsssatz ist somit ein Beobachtungsschema, das hohe praktische Bedeutung hat.

Ist die Zwei-Seiten-Form Gleichheit/Ungleichheit noch symmetrisch, so wird sie nach der Unterscheidung der beiden Werte asymmetrisiert. Gleichheit verlangt Gleichbehandlung – wie diese zu erfolgen hat, liegt bereits fest. Ungleichheit verlangt dagegen in höherem Maße Anschlusskommunikation: Es müssen neue Regeln und Kriterien entwickelt werden, wie der Fall zu behandeln ist.

Dass „Gleichheit“ selbst auch eine Norm zu sein scheint, weil das Gleichheitsprinzip ja immer angewendet wird, erscheint wie eine Paradoxie. Der Grund ist, dass die Form auch als Norm interpretiert wird. Tatsächlich ist die Unterscheidung gleich/ungleich nur die Form, mit die Norm, die Gleichbehandlung aller Fälle, erzeugt wird.

Unterschieden werden muss zwischen politischem und rechtlichem Gebrauch: Die politische Gleichheit von Menschen muss rechtlich interpretiert werden als Gleichheit von Fällen. In beiden Funktionssystemen erzeugt dies Kriterienbedarf. So setzt das Common Law bereits seit dem 16. Jh. auf geschichtliche Kontinuität: Es beruft sich auf eine Tradition von Rechtsentscheidungen zur Orientierung. Erst diese Kontinuität erlaubt dann Innovation: Durch Rückbezug auf frühere Entscheidungen kann das Gericht die Behandlung eines Falles begründen.

Als Schema, das alle Operationen anleitet, sorgt die Unterscheidung von Gleichheit und Ungleichheit für eine rasante Ausdifferenzierung des Systems. Jeder neue Fall muss verglichen werden. Ist er mit nichts vergleichbar, muss eine neue Regel gefunden werden, nach der man in Zukunft eine Serie gleichartiger Fälle bewerten kann.

Mithilfe dieses Beobachtungsschemas baut das Rechtssystem eine historisch unumkehrbare Ordnung auf. Das Schema setzt die Systemgeschichte in Gang. Dieses Vorgehen bewertet das System selbst mit dem Begriff Gerechtigkeit. Kurz: Das Gleichheitsschema sorgt für operative Geschlossenheit, indem frühere Entscheidungen mit späteren rekursiv vernetzt werden.

Damit ist das Gleichheitsprinzip unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Bezugspunkt, was als gleich anzusehen ist, ändert sich nur. In der stratifizierten Gesellschaft war der Anknüpfungspunkt die gottgegebene Schichtung in „unten“ und „oben“. Was gleich war, wurde durch „wesensmäßige Unterschiede“ z.B. zwischen Adel und Bauern bestimmt. Das Gleichheitsprinzip stabilisierte damit die Ungleichheit.

Die funktional differenzierte Gesellschaft ist dagegen durch ihre Funktionssysteme horizontal strukturiert. Die Differenz Gleichheit/Ungleichheit wurde dadurch dynamisiert und in den Prozess der Ausdifferenzierung hineinverlagert. Der Gleichheitssatz wird nun jeweils auf das angewendet, was in einem Funktionssystem gerade entschieden werden muss, damit es seine Autopoiesis vollziehen kann. Die Inklusion aller Menschen in die Funktionssysteme stößt dabei regelmäßig an Grenzen. Denn über Inklusion/Exklusion entscheiden die Systeme nach eigenen Regeln. Der Mensch ist für sie nur Umwelt und ihrer Eigendynamik ausgesetzt.

Menschenrechte geben den Funktionssystemen darum eine strukturelle Prämisse vor: Sie sind die gesellschaftliche Bedingung dafür, dass sich die Funktionssysteme ausdifferenzieren können. Sie sichern damit deren Dynamik – aber auch deren Stabilität. Denn das immer unsichere Verhältnis zur Umwelt erfährt erst durch diese Prämisse eine Stabilität, die zukunftssichernd wirkt, sowohl für die Funktionssysteme als auch für die Gesamtgesellschaft.

Systemtheoretisch sind Menschenrechte damit nicht bloß ein moralischer Wert oder ein politisches Ideal, sondern eine strukturelle Bedingung für die Evolution der Gesellschaft. Das Schema gleich/ungleich ist ein Schema evolutionärer Differenzierung. Es erzeugt selbst immer mehr Gleichheiten und Ungleichheiten.

Das Gleichheitsprinzip gilt logisch auch im Rechtssystem. Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zum Recht. In der Praxis hängt die Möglichkeit, im System erfolgreich agieren zu können, jedoch von finanziellen Ressourcen, Bildung und Kompetenzen ab – und damit von der Schichtung, die auch in der funktional differenzierten Gesellschaft vorhanden ist. So kann die Gesetzgebung durch Lobbyismus beeinflusst werden. Eine Klage vom Format „Bürger vs. Konzern“ muss man sich leisten können. Chancenausgleich sucht das Recht durch Einrichtungen wie Prozesskostenhilfe oder Armenanwälte.

Kommentare

Luhmann nimmt den biblischen Sündenfall als Gleichnis für Verschiedenheit und Ungleichheit. Im Paradies waren Adam und Eva zwar als Geschöpfe Gottes verschieden, aber eben für einander und für Gott gleich. Erst durch den Apfel vom Baum der Erkenntnis erkannten sie ihre Nacktheit und schämten sich voreinander und vor Gott. Ihre erkannte Geschlechtlichkeit führte zu ihrer Ungleichheit und zu allem weiteren Schlamassel.

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