Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 58, K. 02

Episode Nr.
14

Wie war es möglich, dass sich in der Gesellschaft einige wenige Funktionssysteme ausdifferenzierten? Welche Hindernisse musste dabei das Rechtssystem überwinden?

Dieser Abschnitt führt zu den zwei wichtigsten Voraussetzungen für die Bildung von Funktionssystemen: funktionale Spezifikation und binäre Codierung.

Soziale Systeme sind operativ geschlossen: Sie entscheiden autonom, welche Operation (Kommunikation) zum System gehört und welche nicht. Dabei sind sie in der Lage, ihren eigenen Output wieder als Input in das System einzuführen. Durch jede Operation verändern sie ihren Zustand.

Gleichzeitig sind sie in gesellschaftliche Strukturen eingebettet und werden durch diese mitbestimmt. Das wirft die Frage auf, wie überhaupt ein autonomes Funktionssystem wie das Recht entstehen konnte. Welche Voraussetzungen braucht es für diese Autonomie?

In der historischen Entwicklung war vor allem die Stratifikation ein Emanzipationshindernis. Solange die Gesellschaft geschichtet war, mussten Richter die Ungleichheit durch Schichtung in ihren Urteilen reproduzieren. Zudem war man nicht allein zuständig für Rechtsprechung, sondern z.B. auch Könige und Oligarchen.

Weitere Hindernisse waren persönliche Beziehungen von Richtern. „Klüngel“ verhinderte ein Vertrauen in unabhängige Urteile. Daran konnte auch die Trennung von Gesetzgebung und Rechtsprechung nichts ändern, die bereits auf Aristoteles zurückgeht. Gelöst wurde dieses Problem erst durch Rechtspflege: Auch der Richter wurde ans Gesetz gebunden.

Dieser Schritt war nur mithilfe rechtserheblicher, also interner Unterscheidungen möglich. D.h. das Rechtssystem desolidarisierte sich von seinen Abhängigkeitsverhältnissen, und es löste seine Bindung von der Gesellschaft auch sprachlich, um dies zu tun. Damit nimmt die Autopoiesis des Rechtssystems Fahrt auf.

Doch erst mit dem Ende der Stratifikation verlor die Herkunft qua Geburt endlich an Bedeutung. Das Recht konnte sich nun für alleinzuständig erklären und über alle Schichten hinweg Recht sprechen. Von nun an trifft es von sich aus Fürsorge, um seine einzigartige Funktion autonom zu erfüllen.

Neben der funktionalen Spezifikation gibt es jedoch noch eine zweite, gleichermaßen wichtige Voraussetzung für die Bildung eines Funktionssystems: Es braucht eine binäre Codierung.
 
Luhmann weist darauf hin, dass alle Funktionssysteme eine Leitdifferenz haben, d.h. eine leitende Unterscheidung, an der jede (!) Operation ausgerichtet ist:

Wirtschaft: zahlen/nicht zahlen
Politik: Macht/keine Macht
Wissenschaft: wahr/unwahr
Massenmedien: informieren/nicht informieren
Recht: Recht/Unrecht

Die Leitdifferenz von sozialen Systemen besteht aus einem negativen und einem positiven Wert. Beide Werte sind immer zugleich relevant. Nur ihre Unterscheidung gibt ihnen Sinn.

Die Leitdifferenz bildet die oberste Steuerungsfunktion im System. Sie hilft, Komplexität zu reduzieren. Denn alle Operationen werden darauf gefiltert, ob sie den Code berühren und damit relevant sind. Sind sie es nicht, kann das System sie außer Acht lassen und sich insofern entlasten.

Ist eine Kommunikation rechtlich relevant, wird sie in rechtsspezifischer Form rekonstruiert. Das Rechtserhebliche daran wird mit eigener Semantik, mit eigenen Begrifflichkeiten herausgearbeitet.

Kommentare

Am Ende der Episode wird auf eine europäische Rechtsrevolution im 11./12. Jahrhundert eingegangen und kurz das Geschworenengericht der USA in Folge des gesellschaftlichen Neuanfangs nach der Besiedlung thematisiert. Welch interessante und ziemlich bizarre Entwicklung diese Evolution des Rechtssystems genommen hat, beschreibt ganz gut die sehr sehenswerte Netflix-Dokumentation Trial by Media. Es wird exemplarisch gezeigt, welch hohen Einfluss das System der Massenmedien auf das Rechtssystem in den USA nehmen konnte - in der Analyse würde ich hier gar von einer neuen strukturellen Kopplung sprechen.

Sehr guter Hinweis. Diese Aussage würde ich bestätigen, dass sich Medien und Recht nicht nur wechselseitig interpenetrieren, sondern im Fall der US-amerikanischen Rechtsprechung viel mehr noch eine strukturelle Kopplung eingegangen sind. Das lässt sich  auch leicht daran zeigen, welch unterschiedliche Verläufe Gerichtsprozesse nehmen, wenn sie die Öffentlichkeit der Massenmedien erreichen - oder nicht.

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