Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 191, K. 04

Episode Nr.
41

Funktionssysteme wie Recht, Politik oder Wirtschaft operieren mit zweistelligen Codes, die kompromisslos sind und darum unversöhnlich wirken: Es gibt nur Recht oder Unrecht, Regierungsmacht oder Machtlosigkeit der Opposition, zahlen oder nicht zahlen – kein Dazwischen. Anders ist es auf der Programmebene. Erst durch Programme können Systeme ihr Verhältnis zur Gesellschaft gestalten und soziale Probleme ggf. abfedern.

Programme interpretieren den Code. Durch Wenn-dann-Bedingungen (Konditionen) legen sie fest, wie in welchem Fall zu entscheiden ist. Die Binarität des Codes zwingt dazu, die Möglichkeit, sich für die andere Seite zu entscheiden, stets mit zu durchdenken. Kurz, durch Programme reintegrieren sich Systeme in die Gesellschaft. Der Code alleine ist leer. Erst durch Programme wird er mit Sinn gefüllt.

In der vormodernen europäischen Gesellschaft erfüllte das Naturrecht eine solche Ausgleichsfunktion. (Vormoderne verstehen wir hier als den Zeitraum etwa vom 16. bis zum 19. Jh., in dem die stratifizierte, in Adel und Volk geschichtete Gesellschaft ihren Übergang zur funktional differenzierten Gesellschaft vollzog. Gekennzeichnet ist diese Epoche durch Säkularisierung und eine Aufklärung, die das religiöse Welterklärungsmodell in Frage stellt und eigenes Denken fordert. Beispielhaft hierfür: René Descartes, „Ich denke, also bin ich“.)

Zunächst wurde die Natur als Gottes perfekte Schöpfung normativ vorausgesetzt. Rechtlich leitete man daraus ab, dass Schichtung die natürliche Form des Zusammenlebens von Menschen wäre. Der privilegierte Stand des Adels und das Eigentum wurden zwar als menschgemachtes (positives) Recht geführt – darüber stand jedoch hierarchisch das gottgewollte Naturrecht, auf das man sich berufen konnte.

Diese Argumentation bröckelt ab dem 17. Jh., als die Ideen des Sozialvertrags (Sozialkontrakt, Gesellschaftsvertrag) das Naturrecht zunehmend in Frage stellen. Anm.: In „Leviathan“ begründete der britische Philosoph und Staatstheoretiker John Hobbes 1651, warum es in einem (metaphorisch zu verstehenden) „Naturzustand“ kein Herrschaftsrecht geben könne. Jedes Individuum besitze qua Geburt die gleichen individuellen Rechte und Freiheiten. Ein solcher Zustand der Gleichheit bedeute jedoch Chaos. Es herrsche Krieg aller gegen alle, um des Selbsterhalts willen. Darum brauchte es einen Souverän als Lösung – den Staat. Indem die Gesellschaft einem Souverän das Gewaltmonopol überträgt, könnten alle in Frieden und Ordnung leben.

Damit wurde zum ersten Mal logisch hergeleitet, dass Herrschaft durch Recht legitimiert sein muss. Ein Bruch mit der bisherigen Rechtsphilosophie.

Die Ideen des Sozialvertrags führten dazu, dass es im Recht, aber auch in Politik und Wirtschaft immer weniger auf Schichtung ankam. Während der Adel als Reaktion darauf immer öfter professionelle Politik- und Rechtskenntnisse brauchte, um seine schwindenden Privilegien regeln zu lassen, brauchten die geforderten Politikexperten und Rechtsgelehrten keine Adelstitel, sondern Fachwissen, um kompetent entscheiden zu können. Dasselbe galt fürs Geld: Der Adel war auf Geld angewiesen. Aber Geld verdient sich nicht durch Titel, sondern durch kaufmännische Expertise. (Luhmann, „Gesellschaft der Gesellschaft“, Bd. 2, S. 724.)

Der Gesellschaftsvertrag ist eine vorstaatliche Legitimationstheorie, die mit den drei Bausteinen Naturzustand/Vertrag/Souverän zur Gründung von Nationalstaaten und zur Gewaltenteilung führte. John Locke (1632-1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) gingen ebenfalls von einem Naturzustand aus, der zu Krieg Jeder gegen Jeden zwinge. Im Kampf der Fürsten und Herrscher untereinander hielt Locke diesen Zustand sogar für real gegeben. Sein Menschenbild war misanthropisch, er ging davon aus, dass „der Mensch von Natur aus einen schlechten Charakter“ hätte. (Dr. Sebastian Thieme, „Der Ökonom als Menschenfeind“, siehe S. 12.)
https://www.researchgate.net/publication/337440366_Der_Okonom_als_Menschenfeind_Uber_misanthropische_Grundmuster_in_der_Okonomik

Rousseau befreite das Naturrecht von jeder Zwecksetzung. Sein Konzept ist totalitär: Er geht von einem unfehlbaren Gemeinwillen aus, mit dem sich alle identifizieren könnten. Für Grundrechte gegen die öffentliche Gewalt sieht er keine Notwendigkeit, ebenso wenig wie für Minderheitenrechte oder eine Verfassung.
https://www.rwi.uzh.ch/elt-lst-mahlmann/rechtstheorie/rousseau/de/html/unit_u3.html

Immanuel Kant (1724-1804) sah den Vertrag nicht bloß als Willen zur Einigung, sondern als „unbedingte Vernunftnotwendigkeit“ einer positiven Rechtsordnung. Unsicherheit über die Zukunft und rationales Denken würden den Menschen annehmen lassen, seine Umwelt würde ihn nicht gerecht behandeln. https://core.ac.uk/download/pdf/12236339.pdf

Über die Jahrhunderte wurde also immer deutlicher, dass Recht und Politik professionelle Kenntnisse (Ausbildung, Beruf, Funktionsträger) brauchten, um Grundsatzfragen nach Menschenrechten, Rationalität oder Selbsterhalt der rechtsetzenden Gewalt zu beantworten.

Zu den frühen Beobachtern dieser Entwicklung zählt auch Machiavelli: Er empfahl den Herrschenden bereits im 16. Jh., durch Analyse der Politik an der Macht zu bleiben, anstatt den von der Kirche gepredigten „Tugenden“ des Adels Genüge zu leisten und mangels politischer Strategie unterzugehen. Sein Buch „Der Fürst“ begründete die Politikberatung.

Der Code sorgt für Kontingenz der Programme: Es kann immer anders kommen, die Zahlung ausbleiben, das Urteil „Unrecht“ lauten, die Wahl verloren werden. Legitimitätsprobleme löst ein System logischerweise systemintern entsprechend seinem Code. Das Gleiche gilt, wenn Programme nicht miteinander kompatibel sind. Für rechtliche Probleme gibt es rechtliche Problemlösungsregeln. Es entstehen Regeln, die Ausnahmen von Regeln regeln. Und Regeln, wann es keine Ausnahmen geben darf, z.B. beim Verfassungsrecht.

Indem der Code invariant ist, das Programm aber variabel (nur an den Code gebunden), evoluiert das System. Es entwickelt sich permanent weiter, aber es passt sich wohlgemerkt nicht an die Umwelt an, sondern es orientiert sich nur an seinem Code.

Durch Kategorien fügen Programme dem eindeutigen Code mehrdeutige Interpretationsmöglichkeiten hinzu: Etwa, ob etwas richtig/falsch oder änderbar/nicht änderbar ist. Der Code fungiert als Medium, als Formwandler. Ein Medium ist eine lose Kopplung von Elementen, die vorübergehend eine strikte Kopplung eingehen können und dann eine feste Form annehmen.

Durch Codes und Programme erfüllt das Rechtssystem seine soziale Funktion, normative Verhaltenserwartungen zu stabilisieren, ohne dafür länger eine Hierarchie von göttlichem Recht, Naturrecht und positivem Recht zu benötigen. Als Ersatz für Ewigkeit und Natur fungiert der Code. Die Programme sind positives Recht, das sich selbst ändern kann.

Indem das Rechtssystem zwischen Code und Programmen unterscheidet, gewährleistet es zudem Rechtssicherheit in dem Sinne, dass Rechtsfragen nur durch den Rechtscode gelöst werden und nicht etwa durch den Machtcode der Politik. Davon zu unterscheiden ist die Rechtsunsicherheit, wie das Gericht im Einzelfall entscheidet. Der binäre Code sorgt logisch dafür, dass Urteile nicht vorhersehbar sind.

Kommentare

Das war wirklich spannend mitzuerleben, wie der Logos selbst in actu realisiert, dass er sich irgendwie auf Glatteis bewegt und es angemessenere Formen seiner selbst geben könnte :-) Die aufgeworfene Frage nach der Umwelt der Gesellschaft hat Luhmann sehr prägnant in „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ auf Seite 50 beantwortet:

Die Gesellschaft ist ein autopoietisches System auf der Basis von sinnhafter Kommunikation. Sie besteht aus Kommunikationen, sie besteht nur aus Kommunikationen, sie besteht aus allen Kommunikationen. Sie reproduziert Kommunikation durch Kommunikation. Was immer sich als Kommunikation ereignet, ist dadurch Vollzug und zugleich Reproduktion der Gesellschaft. Weder in der Umwelt noch mit der Umwelt der Gesellschaft kann es daher Kommunikation geben. Insofern ist das Kommunikationssystem Gesellschaft ein geschlossenes System. Sie ist aber nur in einer Umwelt, vor allem nur dank psychischen Bewußtseins, dank organischen Lebens, dank physischer Materialisierungen, dank der Evolution von Sonnen und Atomen möglich.

Insofern lag Ulrike mit den psychischen Systemen, also dem Bewusstsein aller Menschen, schon mal goldrichtig, von allem Anorganischen etc. mal abgesehen.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Eingeschränktes HTML

  • Erlaubte HTML-Tags: <a href hreflang> <em> <strong> <cite> <blockquote cite> <code> <ul type> <ol start type> <li> <dl> <dt> <dd> <h2 id> <h3 id> <h4 id> <h5 id> <h6 id>
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.