Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 187, K. 04

Episode Nr.
40

Ein Code allein macht noch kein Funktionssystem aus. Erst mit der „Zusatzsemantik“ von Programmen kann sich ein System an die Umwelt anpassen.

Binäre Codes wie die Unterscheidung von Recht und Unrecht sind keine Prinzipien. Sie sind leitende Unterscheidungen, an der sich alle Operationen des Systems orientieren (auch Leitdifferenz genannt). Ein Code reicht nicht aus, um das System zu reproduzieren. Codes sind nicht variabel. Sie stehen fest. Weder zeitlich noch sachlich können sie an die Umwelt „angepasst“ werden, sondern sind immer schon angepasst.

Zeitlich ist der Code invariant. Er ist bereits das „Ergebnis“ einer evolutionären Entwicklung in der Vergangenheit. Das Recht hat sich als alleinzuständiges Funktionssystem für die Unterscheidung von Recht und Unrecht ausdifferenziert.

Es hat sich der Umwelt jedoch nicht „angepasst“. Stattdessen grenzt sich das Recht selbst durch seinen Code von der Umwelt ab. Es konstruiert sich durch diesen Code, und es konstruiert damit gleichzeitig die Umwelt als alles andere, das nicht zum System gehört. Die System-Umwelt-Differenz zieht das System, nicht umgekehrt. Es gibt keine Anpassung.

Der Code kann auch nicht gegen einen anderen ausgetauscht werden, weil man dann in einem anderen System operieren würde, etwa in der Wirtschaft. Ebenso wenig kann der Code um dritte oder weitere Werte ergänzt werden, wie z.B. der Versuch gezeigt hat, zwischen Recht, Unrecht und Gemeinnutz zu unterscheiden. Bereits mit dritten Werten wird die Komplexität zu hoch. Das System wird zu langsam und schwerlich entscheidungsfähig.

Auf der Sachebene wiederum reicht der Code nicht aus, um damit Informationen zu produzieren. Die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht produziert nur eine Tautologie. Das eine ist das Gegenteil des anderen. Damit ist nichts gesagt. Man produziert eine Leere.

Wendet man die Unterscheidung auf sich selbst an und fragt, ob es recht oder unrecht ist, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, landet man bei einer Paradoxie.

Die Anwendung der Unterscheidung auf sich selbst (re-entry, Wiedereintritt der Form in die Form, George Spencer Brown) erzeugt einen blinden Fleck, weil man die Form, mit der man beobachtet (etwas unterscheidet und bezeichnet) nicht gleichzeitig mitbeobachten und mitbezeichnen kann.

Im Laufe der Geschichte hat das Recht dieses Problem zu lösen versucht, indem es den symmetrischen Code asymmetrisiert hat. Auf der Codeseite „Recht“ wurden Hierarchien eingezogen. Über dem irdischen Recht gab es demnach höheres, höchstes, ewiges Recht, das auf der Meta-Ebene stünde und invariant sei (nach Aristoteles’ Meta-Physik: Meta heißt über). Nach unten hin, in die irdische Praxis, wo Fälle entschieden werden müssen, hat man dieses invariante Recht dann varierbar, also zeitlich und sachlich handhabbar gemacht – durch das Welterklärungsmodell der Emanation (Offenbarung, Erscheinung), demnach die Gesamtwirklichkeit hierarchisch strukturiert wäre. Der Begriff „Meta“ zeigt an, dass in Logik und Linguistik diese Erklärungsversuche zumindest semantisch noch nachwirken.

Die Theorie sozialer Systeme löst diese Paradoxie des Codes prinzipiell anders auf, nämlich mit Hilfe der systeminternen Unterscheidung von Codierung und Programmierung. Der Code selbst ist, wie gesagt, invariant. Er reflektiert nur das Problem, dass es eine Paradoxie gibt.

Erst durch das Einziehen von Wenn-dann-Bedingungen regelt das System, unter welchen Bedingungen etwas Recht oder Unrecht sein soll. Diese eingefügten Konditionen zwingen dazu, jeden Sachverhalt (Information, Kommunikation) einem der Werte zuzuordnen. Der Code ist die Bedingung für Bedingungen. Er ist die Voraussetzung für Programme, die Bedingung ihrer Möglichkeit. Das Urprogramm.

Erst die eingezogenen Konditionen machen es möglich, Sinn zu produzieren und Entscheidungen zu treffen. Erst die Programme ermöglichen Varianz. Sie erst produzieren jene Informationen, die in ihrer Gesamtheit als „Recht“ wahrgenommen werden, als Rechtsprechung, die sich auf sich selbst beruft.

Luhmann bezeichnet Programme darum auch als Zusatzsemantik. Soziale Systeme brauchen sie, um mit ihrem Code systemspezifische Informationen zu erzeugen. Anders gesagt: Erst durch weit ausgearbeitete Programme sind „kritische“ Diskussionen möglich.

Programme sind demnach Kriterien, mit deren Hilfe ein codiertes System Ereignisse fallweise dem einen bzw. dem anderen Codewert zuordnet. Diese Kriterien sind, ganz anders als der Code, variabel. Sie entspringen der eigenen Systemgeschichte, der Tradition. Was aber nicht ausschließt, dass nicht auch „irgendwelche Gesichtspunkte“ vorgeschlagen werden könnten. Das System entscheidet, ob sie rechtlich relevant sind.

Codierte Funktionssysteme wie das Recht reproduzieren sich demnach durch die Unterscheidung von Codes und Programmen. Durch das Einfügen von Wenn-dann-Konditionen treibt das System seine eigene Evolution voran, ohne sich an die Umwelt anpassen zu müssen.

Kommentare

Also Eure 40. war als Nuller-Folge wohl die bisher spekulativste und weitschweifigste - ich wüsste gar nicht, wo ich überall einhaken müsste und so fange ich gar nicht erst an. Allerdings taten mir zwei Punkte dann doch so weh, dass ich wenigstens kurz "protestieren" möchte ;-)

Ich glaube gehört zu haben, dass der Begriff Metaphysik von Aristoteles geprägt worden sei, da er nach einem "Buch" über Physik noch eines über das Darüberhinausgehende geschrieben hat. So einfach ist das jedoch nicht, da die Zuordnung des Präfix "meta" erst deutlich später erfolgte. Einen Überblick bekommt man gut auf Wikipedia mit weiteren Quellenangaben wie Hans Reiner: "Die Entstehung und ursprüngliche Bedeutung des Namens Metaphysik", in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 8 (1954), 210–237.

Bzgl. Ulrikes antizipiertes Journalismussystem möchte auf Luhmanns System der Massenmedien verweisen, in dem auch der Journalismus mit aufgeht und kurz zwei Zitate aus seinem exzellenten Buch "Die Realität der Massenmedien" anfügen: "Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. (...) [D]er Grundgedanke ist, daß erst die maschinelle Herstellung eines Produktes als Träger der Kommunikation - aber nicht schon Schrift als solche - zur Ausdifferenzierung eines besonderen Systems der Massenmedien geführt hat." und "Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung von Information und Nichtinformation."

Lieber André, vielen Dank für Deine Hinweise und entschuldige, wenn Dir die 40-ste nicht gefallen hat. Das war mir nicht bekannt, dass dieser Titel erst nachträglich zustande kam. Ich habe mich mit der Philosophie Aristoteles' allenfalls oberflächlich auseinandergesetzt und wollte nur eine sprachliche Herleitung des Begriffes "Metaphysik" anbieten. Das sollte jetzt keine philosophiegeschichtliche Herleitung wiedergeben. Ich denke, dass man sich das in einem Podcast gerade noch leisten kann (wofür man an der Uni freilich in ewige Ungnade fallen würde). - Vielleicht ist die 41-ste wieder besser :-)

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