Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 174, K. 04

Episode Nr.
37

Auf praktischer Ebene ist der binäre Code Recht/Unrecht einfach zu handhaben. Der eine Wert negiert den anderen: Es gibt kein ausgeschlossenes Drittes, nur entweder/oder. Der Code kann nur als Unterscheidung praktiziert werden.

Dahinter stehen jedoch komplizierte logische Strukturen, die in der Theorie sozialer Systeme als re-entry bezeichnet werden. Der mathematische Begriff geht auf George Spencer Brown („Laws of Form“) zurück und bezeichnet den Wiedereintritt einer Form in die Form.

Übertragen auf Kommunikation heißt re-entry: Die Unterscheidung von Recht und Unrecht erzeugt eine Form. Denn durch das Einziehen dieser Differenz (Grenze, Linie, Schnitt) wird ein Raum in zwei Hälften geteilt. Die erzeugte Unterscheidung kann nun wieder in das zuvor Unterschiedene eingeführt werden, und zwar auf beiden Seiten der Unterscheidung.

Jedes Mal nun, wenn die Unterscheidung Recht/Unrecht angewendet wird, kreuzt das System die Grenze seiner Form. Das Kreuzen (Crossing) erfolgt symmetrisch: Die Unterscheidung wird auf beiden Seiten des zuvor Unterschiedenen wieder eingeführt. Dies wird als doppelter Wiedereintritt der Form in die Form bezeichnet. Das re-entry erfolgt in beide Richtungen.

Die Form des Codes ist also symmetrisch. Seine Anwendung im System erfolgt jedoch asymmetrisch, weil das System einen Präferenzwert hat: Das Recht operiert nur auf der Seite des Rechts. Durch Konditionalprogramme wird der symmetrische Code darum asymmetrisiert: Wenn-dann-Bedingungen regeln auf beiden Seiten des Codes, wie sowohl Recht als auch Unrecht jeweils rechtmäßig zu behandeln sind. Erst dadurch schließt sich das System gegenüber der Umwelt, denn nur das Recht gewährleistet die einzigartige Funktion, ausschließlich rechtmäßig zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden.

Durch die asymmetrische Anwendung des Codes sind zugleich Konflikte zwischen den Code-Werten im System ausgeschlossen. Offenkundig operiert das System nur auf der positiven Seite. Empirisch lässt sich das in jeder Rechtskommunikation leicht erkennen. Konflikte zwischen Code-Werten können darum nur zwischen konkurrierenden Systemen entstehen, die verschiedene Logiken zugrunde legen, etwa einst Kirchenrecht vs. weltliches Recht.

Das doppelte re-entry auf beiden Seiten der Form ist jedoch nicht der Normalfall. Bei der System-Umwelt-Differenz, mit der sich das System selbst von der Umwelt abgrenzt, erfolgt das re-entry nur auf der Seite des Systems: Das Rechtssystem führt die Differenz, mit der es sich von der Umwelt abgrenzt, wieder in sich selbst (in das Unterschiedene) ein. Die Umwelt kann das nicht. Der Begriff ist unspezifisch und wird nur zur Abgrenzung mitgeführt. Die Umwelt ist für das System nur ein vager Zustand, der unmarked state. Auch wenn es in der realen Welt natürlich Differenzen gibt, so werden sie mit diesem Begriff nicht spezifiziert.

Das System schreibt sich durch seine System-Umwelt-Differenz also in die Umwelt ein, aber nicht die Umwelt in das System. Die Umwelt ist nur das Produkt der Grenzziehung, mit der sich das System selbst als Recht definiert. Sie repräsentiert gewissermaßen das Unrecht – als Auslösesignal für die Operationen des Systems.

Mit zweiwertigen Codes bauen Systeme Bistabilität auf. Jeweils eine Seite des Codes bildet den Anschlusspunkt für die nächste Operation auf der anderen Seite. Anders gesagt: Der Anschlusspunkt wird abwechselnd von der einen Seite auf die andere verlagert. Wie bei einem Kippschalter gibt es nur An/Aus, oder wie in der Computertechnologie nur die Werte 1/0, positiv/negativ. Bistabile Systeme sind somit Systeme mit eingebauter Unterscheidung, die zwei Zustände annehmen können, indem sie die Grenze ihrer Form in beide Richtungen kreuzen. Die Anschlusspunkte sind logisch nur nacheinander benutzbar, nicht gleichzeitig.

Dafür ist keinerlei Anpassung an die Umwelt nötig. Allein mithilfe der eingebauten, zweiwertigen Unterscheidung und der daran orientierten Operationen können bistabile Systeme determiniert auf die Umwelt reagieren. Gerade die Einfalt des Codes ermöglicht die Vielfalt der Anschlussmöglichkeiten. Bistabilität bedeutet, dass der Code aus nicht mehr als zwei Werten besteht. Der zweiwertige Schematismus strukturiert alle Operationen. Beobachtungsfähigkeiten, wie sie soziale Systeme brauchen, sind dafür noch gar nicht nötig. Der Code wird nie verändert, er ist die Grundbedingung der Autopoiesis.

Was Recht ist, lässt sich nach all dem nur durch die Einführung einer identifizierbaren Unterscheidung logisch begründen.

Elementare Voraussetzungen, um überhaupt etwas unterscheiden zu können, sind in sozialen Systemen die Fähigkeiten, zu beobachten und das Beobachtete sowie sich selbst unterscheiden und bezeichnen zu können. Beobachten bzw. Unterscheiden und Selbst- bzw. Fremdreferenz sind operativ nicht zu trennen. Das eine setzt das andere voraus, man kann es nur analytisch auseinanderhalten. „Der Beobachter“ ist dabei nicht als Subjekt zu verstehen, sondern als Form. Er ist nur die eine Seite einer Zweiseitenform, die aus Beobachter und Beobachtetem besteht. Beides ist logisch nicht voneinander zu trennen.

Kommentare

Die Umwelt ist nur das Produkt der Grenzziehung, mit der sich das System selbst als Recht definiert. Sie repräsentiert gewissermaßen das Unrecht – als Auslösesignal für die Operationen des Systems.

Also wenn sich das Sie des zweiten Satzes auf die Umwelt beziehen sollte, dann müsste ich protestieren. Für das funktional ausdifferenzierte Rechtssystem bezeichnet die Gegenseite der Unterscheidung System/Umwelt nicht das Unrecht, sondern den unmarked space des „Restes“ der Gesellschaft. Vermutlich liegt der Fehlschluss nahe, da beim Rechtssystem das System selbst manchmal nur mit dem Wort Recht statt Rechtssystem bezeichnet wird und dann kann man schon fälschlich auf die Umwelt als Gegenseite des System-Codes Recht/Unrecht schließen. Vielleicht wird das noch deutlicher, wenn man es sich für das Wirtschaftssystem mit dem Code Zahlung/Nicht-Zahlung ansieht: da würde man auch nicht die Umwelt des Wirtschaftssystems mit Nicht-Zahlung kurzschließen, denn in der Umwelt des Wirtschaftssystem existiert die Unterscheidung Zahlung/Nicht-Zahlung nicht.

An einer Stelle der Folge entfaltet sich eine kurze Diskussion, ob das re- in re-entry eher im Sinne von „wieder“ oder von „zurück“ zu verstehen ist. Ich hatte mich das vor einer Weile auch gefragt und habe dann eine Antwort mit der Form E4, des sogenannten Modulator, in Kapitel 11 von Laws of Form gefunden. Form E4 enthält insgesamt sieben re-entries, wobei drei davon zurück, aber eben vier vorwärts weisen. Unabhängig von der jeweiligen Richtung bezeichnet George Spencer-Brown alle sieben als re-entries (nicht etwa auch forward-entry), was die Interpretation „zurück“ ausschließt. Da ich keine Abbildung der Form E4 hier einstellen kann, verweise ich für weitere Details auf meinen Artikel Digital analysis of a form.

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