Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 128, K. 03

Episode Nr.
27

Welche Funktion hat das Recht für die Gesellschaft? Zuvor hatte Luhmann bereits erklärt, warum die Sozialdimension sich nicht eignet, um daraus eine Funktion wie „Integration“ abzuleiten. Denn das hieße: Es käme zu jeder Zeit eine andere Definition dabei heraus.

Die Hypothese lautet: Das Recht löst ein Zeitproblem. Dieses besteht darin, dass die Zukunft ungewiss ist. Die Funktion besteht darin, diese Unsicherheit partiell zu absorbieren. Dank rechtlicher Normen kann man Erwartungen formulieren.

Wie geschieht das? Durch Wiederholung von rechtlicher Semantik werden Normen bestätigt und verdichtet. So entstehen normative Erwartungen und sprachliche Normen. Dissenz über „korrekte“ Bezeichnungen trägt das System intern aus. Sprachliche Schemata enstehen und verfestigen sich, z.B., was akzeptabel/inakzeptabel ist. Bezeichnungen werden fixiert, ihre Verwendung aber in verschiedensten Kontexten bleibt variabel. Auf diese Weise erzeugt die Kommunikation Sinn. Sie prozessiert.

Dabei enthält jede Unterscheidung bereits die Möglichkeit einer Normabweichung. Sie ist durch die Zwei-Seiten-Form gegeben. Die negative beurteilte Seite liefert den „Stoff” für Diskussionen.

Semantik ist somit das Fundament jeder Normativität. Und obwohl es möglich wäre, etwas willkürlich zu bezeichnen, ist es wiederum eine Norm, das nicht zu tun. „Unnormale“ Bezeichnungen werden hinterfragt, korrigiert.

Auf dieser Basis beurteilt das Rechtssystem Verhaltensweisen. Es diskriminiert, wer Recht und wer Unrecht hat. Dabei weisen Entscheidungen zwangsläufig in die Zukunft. Ein Urteil ist bindend, gleiche Fälle müssen gleichbehandelt werden.

Diese Zeitbindung verlangt Prognosefähigkeit. Eine Entscheidung muss soziale Entwicklungen prognostizieren und Verhaltensweisen präjudizieren. Damit stabilisiert ein Urteil Erwartungen, aber es enttäuscht sie auch – bei denjenigen, deren Verhaltensfreiheit eingeschränkt wird.

Diese Problematik wird durch Urteilsbegründungen, die motivierend wirken sollen, leicht verdeckt. Kurz gesagt, verlaufen Begründungen auf der Sach-, nicht auf der Zeitebene.
 
Rechtsnormen sind damit symbolisch generalisierte Erwartungen. Sie symbolisieren die Zukunft. Ein Symbol verweist auf etwas Fiktionales („Himmelreich auf Erden“). Als Begriff ist „das Symbol“ ein reflexives Zeichen: Es bezeichnet sich selbst als Zeichen für etwas.

Der Zeitbezug des Rechts liegt somit in der Funktion von Normen, stabile Zukunftserwartungen ausbilden zu können.

Die Umwelt des Rechtssystems, die Gesellschaft, reagiert entsprechend sensibel, wenn das Recht normative Erwartungen intensiviert oder extensiviert. Veränderung wird beobachtet und erzwingt eine Entscheidung: Ist man dafür oder dagegen? Ist der Dissenz stark, kann hier, in der Sozialdimension, wo die Gesellschaft mitredet, eine Rechtsentscheidung zur Ursache sozialer Spannungen werden.

Analytisch lassen sich Zeit- und Sozialdimension trennen, empirisch nicht. Sie interpenetrieren sich und verursachen jeweils Kosten auf der anderen Seite.

Die Form des Rechts besteht demnach darin, dass zwei Unterscheidungen kombiniert werden. 1. Die Unterscheidung Recht/Unrecht. 2. Die Unterscheidung, worauf eine rechtliche Erwartung beruht: a) auf internen Normen (das Recht bezieht sich auf sich selbst), oder b) auf externen Fakten. Denn das System ist ja gegenüber der Umwelt kognitiv offen, es beobachtet sie. Externe Fakten werden, sofern rechtsrelevant, nach internen Normen verarbeitet. (Mehr zur kognitiven Offenheit in Ep. 20.)
 
Und dann gibt es noch die Sachdimension: Sie umfasst die konkreten Themen und Inhalte der Rechtsnormen. Die Programme, die eine Zuordnung von Recht/Unrecht ermöglichen. Diese sichtbare Ebene hat jedoch „nur“ eine Ausgleichsfunktion für die Spannung zwischen Zeit- und Sozialdimension.

Folglich kann man keine „sachliche“ Definition des Rechts erstellen. Luhmann ersetzt diese Vorstellung darum durch die Systemreferenz „Rechtssystem“.

Kommentare

Gern komme ich Eurem Aufruf an die Hörerschaft nach und biete meine Interpretation des Satzes auf Seite 129 „…Zeitbindung muss gebüßt werden in der Form, dass "Unrecht" etabliert und zugerechnet wird.“ an. Nachdem im vorherigen Satz geklärt worden ist, dass es im Rechtssystem ja nicht nur um die kommunikative Bewertung von Kommunikation, sondern um die kommunikative Bewertung von Verhaltensweisen geht, wird der Aspekt des Einbüßens der angestrebten Zeitbindung klarer. Das Ziel der Normung war ja die Verstärkung der positiven Seite der Unterscheidung und nicht etwa der negativen, doch auf Grund der Dearbitrarisierung der Bezeichnungen muss man notgedrungener Weise auch diese negative Seite, das Unrecht, korrekt begrifflich fassen und genau beschreiben, damit es zurechenbar wird. In gewisser Weise etabliert man dadurch das Unrecht sprachlich, obwohl man es ja in der Zeitdimension vermeiden will. Der Satz argumentiert also gegen die denkbare Alternative, nur die positive Seite begrifflich und beschreibend zu fassen, das Negative wegzulassen, weil man es ja nicht verstärken will. Man kann eben nicht an einen rosa Elefanten denken, ohne sich diesen rosa Elefanten überhaupt erst mal vorzustellen – das klassische Problem der sprachlichen Fassung der Negation.

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