Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S.76, K.02

Episode Nr.
17

Das Verhältnis eines Systems zur Umwelt lässt sich in der Kommunikation beobachten: Bezieht sich die Kommunikation aufs System, auf die Umwelt oder auf deren Differenz? Außerdem: Welche Rolle spielt die Moral in Funktionssystemen?

Das bisher gezeichnete Bild von operativer Geschlossenheit erweitert Luhmann nun um den Begriff der Umwelt. Systeme haben selbstverständlich Beziehungen zur Umwelt. Doch ihre Kommunikation mit der Umwelt produzieren sie autonom: in autopoietischer Geschlossenheit, nach ihren eigenen „Regeln“, die sich alle an der jeweiligen Leitdifferenz wie Recht/Unrecht orientieren.

Insofern sind Systeme operativ geschlossen und offen zugleich. Die Geschlossenheit ist sogar Voraussetzung für die Offenheit: Indem das System durch Kommunikation seine Grenze zieht und sich schließt, unterscheidet es sich selbst von etwas anderem und konstituiert dadurch seine Umwelt als Umwelt. Wenn Luhmann also von Geschlossenheit spricht, so ist die Offenheit immer gleich mitgedacht.

Die Fragen lauten nun, wie das System beobachtet: Wie es sich selbst beobachtet (Selbstreferenz), wie es seine Umwelt beobachtet (Fremdreferenz) und wie es die Unterscheidung zwischen sich und der Umwelt wiederum in sich selbst einführt.

Diese Wieder-Einführung wird auch Re-Entry genannt: In der Formsprache George Spencer Browns handelt es sich um einen „Wiedereintritt der Form in die Form“. Etwas wird unterschieden, und diese Unterscheidung wird in das Unterschiedene wieder eingeführt. Eine Grenze (Differenz) wird gekreuzt. All das lässt sich in der Kommunikation beobachten und ist Gegenstand der folgenden Untersuchungen.

Luhmanns Begriff von Autonomie entspricht damit nicht dem üblichen Autonomieverständnis. Die Theorie sozialer Systeme untersucht keine kausalen Abhängigkeiten, also keine wechselseitigen Ursache-Wirkung-Beziehungen zwischen System und Umwelt, die zu Rückschlüssen auf eine relative Autonomie in bestimmten Punkten führen könnten. Stattdessen beobachtet die Theorie, wie das System seine durch spezifische Kommunikation erzeugte Autonomie handhabt, wie es also zwischen sich und der Umwelt unterscheidet, die „Grenze kreuzt“, erkennbar in der Kommunikation. Fremdreferenz bedeutet darum auch nicht Einschränkung der Autonomie, sondern sie ist eine systeminterne Operation.

Erkennen lässt sich operative Geschlossenheit in der Bezugnahme auf systeminterne Normen, z.B. die rechtliche Norm, bei der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich zu behandeln. Insofern sind Systeme „normativ geschlossen“. Dagegen sind sie „kognitiv offen“: Sie besitzen die Fähigkeiten, sowohl die Umwelt wahrzunehmen als auch das Beobachtete zu verarbeiten.

Operative Geschlossenheit schließt die Vorstellung aus, Moral könnte im Rechtssystem (oder in der Wirtschaft, in der Politik) ein unmittelbar geltendes Entscheidungskriterium sein. Dies ist nicht der Fall. Das Rechtssystem muss konsistent entscheiden, d.h. es muss die Einheitlichkeit seines Entscheidens dauerhaft sicherstellen. Was moralisch oder unmoralisch ist, ist dagegen eine Standpunktfrage und wird typisch kontrovers diskutiert – ohne Aussicht auf universellen Konsens. Als oberste Entscheidungsinstanz eignet sich das nicht.

Gleichwohl ist eine moralische Kritik des Rechts möglich und notwendig. Moralische Diskurse bleiben notwendig, um immer aufs Neue zu hinterfragen, ob das Rechtssystem noch an Gerechtigkeit orientiert ist.

Kommentare

Sehr spannend Eure leidenschaftliche Moraldebatte zum Ende der Folge: ein wahrlich großes und hochaktuelles Thema, zu dem es viel zu sagen gäbe. Luhmann hat den moralischen Code ja als in jedem Funktionssystem sekundär mitlaufenden Code beschrieben und dabei die Frage aufgeworfen, ob die Einführung von moralischen Überlegungen in einen Konflikt nicht eher zur Eskalation und eben nicht zur Lösung führen würde. In seinem Interview zur Ökologiedebatte schlug er in dem Segment ab Minute 4:18 bis 11:15 aus diesem Grunde vor, dass die Ethik als philosophische Schule des methodisches Nachdenken über Moral die Frage untersuchen solle, wann das Einführen von Moral hilfreich sei und wann eben nicht. Insbesondere vor dem Hintergrund unserer modernen Risikoprobleme warnt er also in gewisser Weise vor Moral und meines Wissens hat die Ethik sich bis heute seiner Frage nicht gestellt.

Erstklassiger Hinweis und toller Querverweis auf das Luhmann-YouTube-Video. Eine Frage der man umbedingt nachgehen sollte, da viele Luhmann als einen Moral-Skeptiker ansehen - möglicherweise aufgrund dieses Videos.

Ich denke, dass ein Rückgriff auf die Moral in diesem Fall, also bei der Interpretation des geltenden Rechts, stets ein legitimes Mittel und als allgemeine Norm anerkannt ist. Der Konflikt oder die Eskalation ist im Falle eines Prozesses, wo diese Fragen auftreten, ja schon eingetreten. Im Falle einer eher rechtstheoretischen Auseinandersetzung drückt sich in einer moralischen Beurteilung auch keine Missachtung aus, da die Betroffenen in so einem Falle fiktiv wären. Im Gegensatz zur Umwelt-Debatte oder ähnlichen öffentlichen Diskursen, ist der Gebrauch der Moral (wann man moralisch argumentieren darf und wann nicht) im Rechtssystem ja genau geregelt.

An dieser Stelle muss ich erst einmal erwähnen, dass die Möglichkeit zur forumsförmigen Diskussion eine tolle Bereicherung Eures Podcasts darstellt und in sich großes Potential für noch weiteren Erkenntnisgewinn birgt. Ich bin jedenfalls gespannt, ob sich hieraus gar eine kommunizierende Community entwickelt.

Ich habe versucht, Dein Argument

Im Gegensatz zur Umwelt-Debatte oder ähnlichen öffentlichen Diskursen, ist der Gebrauch der Moral (wann man moralisch argumentieren darf und wann nicht) im Rechtssystem ja genau geregelt.

von seiner Quelle zu verstehen und mir die Folge noch einmal angehört. Wir können vermutlich in der Beobachtung übereinstimmen, dass sich Dein Argument jedenfalls nicht aus den Luhmann-Zitaten dieses Abschnitts ergibt; wenn Luhmann in diesem Abschnitt etwas zur Moral sagt, dann argumentiert er vielmehr für die Unabhängigkeit des Rechtssystems von Moral.

Im Laufe der Folge entwickelt ihr beiden dann eine interessante, doch vom Text eher losgelöste Moraldebatte, bei der Du - wenn ich Dich richtig gehört habe - die zwei folgenden Argumentationen anführst. Einserseits soll die Moral sich schon in der Funktion des Rechtssystems verbergen und andererseits erwarte ja jeder, der das Rechtssystem konkret anruft, von diesem Gerechtigkeit.

Die Funktion des Rechtsystems umschreibst Du an häufig mit gleiche Fälle sollen gleich und unterschiedliche Fälle unterschiedlich nach dem Code Recht/Unrecht behandelt werden - aber in jedem Fall für alle konkreten Anrufe in gleicher Weise. Das ist zwar ein Aspekt der Funktion, aber eben keine Gerechtigkeit, denn eine wahrgenommene Ungerechtigkeit wird ja auch in gleichen Fällen immer wieder genau so vermeintlich ungerecht entschieden werden.

Die potentiell enttäuschte Erwartungshaltung des konkreten Anrufers des Rechtssystems nach Gerechtigkeit mag nun das relativ hohe Enttäuschungspotential eines solchen Anrufs begründen, kann aber auch kein Argument für eine Verortung von Moral im Rechtssystem sein.

Man könnte vielleicht noch anführen, dass moralische Normen der Gesellschaft, die vor der Ausdifferenzierung des Rechtssystems nur als Moral galten, ja später in die Rechtsnormen des dann ausdifferenzierten Rechtsystems Einzug gehalten haben. Aber dann wiederum als Ergebnis der Autopoiesis des Rechtssystems, das diese nun als rechtliche Normen genau spezifiziert und damit in gewisser Weise der pluralistischen Moral entzieht, sprich entmoralisiert. Liegt hier vielleicht unser Missverständnis begründet, dass Du diese nun konkret rechtlichen Normen auch noch als moralische Normen in Deiner Argumentation verstanden hast?

Von unseren persönlichen Einschätzungen zur Moral im Rechtssystem einmal abgesehen, geht es mir vor allem um Luhmanns Perspektive, also ob und wo man etwas dazu in seinen Texten finden kann. Vielleicht hast Du da ja noch gute Referenzen, die Deine Argumentation erhärten.

Lieber André,

vielen Dank für Deine präzise ausgeführten Fragen zum Thema. Es ist mir ein großes Vergnügen, darauf zu antworten und ich begrüße Deine Vorschläge. Bei dem, was Du schreibst, wird mir bewusst, dass ich mich im Podcast unklar ausgedrückt habe, und dass das so nicht vollständig war.

Im Rechtssystem und in der moralischen Kommunikation werden grundsätzlich verschiedene Codes verwendet (Rechtssystem: Recht/Unrecht, Moral: Gut/Böse). Schon deswegen gehört die Moral in die Umwelt des Rechtssystems. Das Rechtssystem ist, wie Du völlig richtig sagst, unabhängig von der Moral. Aber: Diese zwei Kommunikationssysteme interpenetrieren einander, so wie Politik und Wirtschaft. Es gibt zwischen Recht und Moral sog. "strukturelle Kopplungen", die sich empirisch beobachten lassen. Strukturelle Kopplungen sind aber nicht gleich Abhängigkeiten. Durchaus lässt sich vorstellen, und mit Verweis auf das Dritte Reich auch belegen, dass diese strukturellen Kopplungen änderbar oder sogar ganz auflösbar sind. - Und das stellt - mit Verweis auf Hannah Arendt - ein große Gefahr da. Ich persönlich bin der Meinung, dass moralische Institutionen gestärkt werden müssen, so dass diese mehr Einfluss auf Rechtsprechung, Politik und Ökonomie nehmen, bin mir aber durchaus bewusst, dass alle moralischen Forderungen für andere Systeme Herausforderungen oder  auch Zumutungen darstellen. Trotzdem: Das Recht erfüllt eine Funktion für die Gesellschaft -  und losgelöst von der Gesellschaft könnte das Rechtssystem seine Autopoiesis ja nicht fortsetzen.

Nachdem man die rechtliche und moralische Kommunikation deutlich voneinander unterscheiden kann, und festgestellt hat, dass moralische Kommunikation nur sehr bedingt an rechtliche Überlegungen anschlussfähig sind (Recht <-> Gut, Unrecht <-> Böse), dann kann man wunderbar diese strukturellen Kopplungen beobachten und beschreiben, und nach maßgabe der Möglichkeiten an der Ausgestaltung dieser strukturellen Kopplungen arbeiten. Für Praktiker, würde ich sagen, wird die Systemtheorie erst ab hier wirklich interessant und hilfreich.

Habe ich Deine Frage beantworten können?

Liebe Grüße
Joachim

Lieber Joachim,

vielen Dank für Deine Ausführungen, jetzt wird mir Deine Position klarer. Allerdings kann ich Deiner Beschreibung als strukturelle Kopplung nicht folgen, denn diese können ja nur zwischen Systemen bestehen und der Moral-Code gut/böse hat es eben nicht geschafft, ein eigenes Funktionssystem in der Gesellschaft auszubilden; auch als "Kommunikationssystem" hat Luhmann die Moral nie beschrieben. Statt dessen laufen moralische Unterscheidungen und Kommunikationen in jedem Funktionssystem parallel zum jeweiligen symbolisch generalisierten Medium mit und stabilisieren das System. Wenn wir von der Amoralität der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie wahr/unwahr, Recht/Unrecht etc. einmal ausgehen, kann Moralbedarf in jedem dieser Funktionssysteme entstehen z.B. in der Wissenschaft bzgl. Datenmanipulation und Plagiaten, Korruption in der Politik usw.

Aber das ist ein rein theoretischer Dissens zur theoretischen Modellierung der Moral und ich kann Deine Hoffnung auf eine Stärkung der Moral gut verstehen. Leider beobachte ich eher eskalierende Folgen der zunehmenden Moralisierung und bleibe entsprechend skeptisch.

Liebe Grüße
André

Hi André,

ah, verstehe. Ich gehe in der Tat von der These aus, dass sich die Moral der Gesellschaft als autopoietisches Kommunikationssystem beschreiben lässt. - Meiner Meinung nach weist Moral alle Merkmale auf, die dafür erforderlich sind. Die praktische Philosophie seit Aristoteles bietet einen hinreichend ausdifferenzierten strukturellen Unterbau, es gibt einen Code, der operative Geschlossenheit sicherstellt, moralische Kommunikation lässt sich empirisch beobachten (in Politik, Wirtschaft und Recht). Und am Ende gibt es eine nicht wegzudenkende Funktion der Moral für die Gesellschaft.

Mit den Enquete-Kommissionen des Bundestages gibt es sogar Institutionen, deren Aufgabe die Klärung ethischer und moralischer Fragen ist - nur sind diese Institutionen viel zu schwach. Aber im Prinzip kann jeder den Moral-Code verwenden und sich somit an moralischer Kommunikation beteiligen. An dieser Stelle teile ich jedoch Deinen Pessimismus, dass nicht annähernd ausreichend gebrauch davon gemacht wird. Und - müsste man noch hinzufügen - oft auch nicht der richtige Gebrauch davon gemacht wird.

Ah, jetzt habe ich erst verstanden, dass Du eine These von Dir formuliert hast und vermutlich selbst weißt, dass Du Dich dabei nicht auf Niklas Luhmann stützen kannst. Autopoiesis ist natürlich eine Voraussetzung für soziale Systeme, reicht aber allein nicht aus, um auch ein Funktionssystem auszudifferenzieren. Ein funktionsspezifisches gesellschaftliches System übernimmt exklusiv eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft und wie an den Beispielen oben ausgeführt, läuft die moralische Kommunikation in allen Funktionssystemen parallel mit. Darüber hinaus kommunizieren Funktionssysteme mittels Erfolgsmedien, auch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien oder Super-Codes genannt. Diese Erfolgsmedien erzeugen eine laufende Ermöglichung einer hochunwahrscheinlichen Kombination von Selektion und Motivation und transformieren auf wunderbare Weise Nein-Wahrscheinlichkeiten in Ja-Wahrscheinlichkeiten. Beide Kriterien kann das von Dir vermutete Moralsystem eben genau nicht aufbieten oder was wäre denn in Deiner These die exklusive Funktion für die Gesellschaft oder auch das Erfolgsmedium?

Lieber André,

diese Frage sollten wir weiter entwickeln. Da ich im Moment im Urlaub bin, und keinen Zugriff auf meine Bücher (außer RdG) habe, antworte ich mal einfach so, obwohl das für eine wirkliche Klärung unangemessen ist. Aber ich fühl  mich jetzt angespornt und habe auch Lust, darauf zu antworten. Sprich: Ich habe mich nicht abgesichert, und habe diese These nirgendwo ausgearbeitet oder untersucht. Dennoch sehe ich meinen Versuch noch nicht als gescheitert. Es gibt auch keine Ausarbeitung von Luhmann zu diesem Thema, vergleichbar mit dem Recht dG oder der Wissenschaft dG, wobei ich in einer Fußnote gesehen habe, dass es eine 14-seitigen Publikation zur Moral in Englisch gibt und sicher noch einiges mehr. Die Luhmann-Habermas-Kontroverse ist sicherlich eine Fundgrube für Argumente für oder gegen meine These.

Deine Kritik bringt entscheidendes zur Sprache: Was ist das Erfolgsmedium, oder das „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium“ der Moral? - Mit einer Art Lackmus-Test würde ich meine These so begründen: Die Moral blickt seit den Griechen auf eine über 2500-jährige Geschichte zurück. Immer wieder und zu jeder Zeit haben sich die großen Denker mit der Moral auseinandergesetzt, mit denselben Fragen, eben den moralischen Fragen. Allein das Alter dieser Tradition lässt darauf schließen, dass es ein Erfolgsmedium geben muss. Alles andere wäre Unwahrscheinlich. Eben diese Unwahrscheinlichkeit ist überwunden und moralische Kommunikation ist heute wahrscheinlich; in unseren Tagen sogar sehr gefragt, auch wenn es starke Irritationen gibt.

Jetzt müsste ich natürlich das Erfolgsmedium der Moral benennen können, und zeigen, dass sich dieses in einem einheitlichen Symbol zum Ausdruck bringen lässt, wie Geld, Liebe, Wahrheit o.ä. Damit bin ich noch nicht sehr weit gekommen. Meine Favoriten sind zur Zeit: Menschlichkeit oder Würde. Die Gesellschaft und jedes seiner Subsysteme hat den Menschen, einen sich stets gleichartig wiederholenden Gegenstands-Typ, als einen festen Bestandteil seiner Umwelt. Moralische Kommunikation wäre dann auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung funktional daran orientiert, die Zumutungen der Gesellschaft für den Menschen menschlicher zu gestalten, wobei immer offen ist, worin die Menschlichkeit besteht.

Allerdings würde dieses Symbol z.B. Tiere von diesen Überlegungen ausschließen, oder man müsste entparadoxieren, dass Tiere ja nicht menschlich, sondern artgerecht behandelt werden sollten. Deswegen bin ich auf Würde gekommen, weil dieser Begriff nochmal fast dasselbe wie Menschlichkeit sagt, aber noch abstrakter ist. Bei „Würde“ würden die meisten vielleicht erstmal vermuten, dass das ein Wertbegriff sei, wie bei Max Weber, was bei Luhmann gar nicht geht. Bei Würde wäre die symbiotische Kopplung auch unterbelichtet. - Mehr habe ich erst einmal nicht, aber ringe weiter um einen Begriff.

Mich würde erst einmal interessieren, ob Du da mitgehen kannst, oder ob Du noch andere Argumente siehst, die die Frage weiter bewegen.

Vielleicht noch ein paar persönliche Überlegungen. Ich habe ja Philosophie studiert und als ich Luhmann 1992 durch meinen hamburger Philosophielehrer Werner Nitt kennengelernt habe, war ich noch naiver als heute aber trotzdem (oder gerade deswegen) felsenfest davon überzeugt, dass Luhmann die Philosophie ins 21 Jahrhundert führt. Hätte er die Moral oder praktische Philosophie zurückgelassen, wäre er nicht mein Held und die Systemtheorie nicht meine Theorie geworden, dann hätte ich weiter Hegel gelesen. :-)

In Luhmanns  Auseinandersetzung mit Habermas fand ich die Argumentation, dass eine soziale Utopie nicht Bestandteil einer Soziologie oder soziologischen Systemtheorie sein könne, mehr als einleuchtend. Das bedeutet für mich aber nur, dass sich die praktische Philosophie grundlegend neu aufstellen muss - und dass sie nicht nur „Philosophie“, d.h. bloß eine alters-weise Lehre, bleiben darf. Sie muss sich der Gesellschaft subsumieren und ihre Geltung, die zuvor durch Gott oder seine Schöpfung garantiert war, selbst einfordern. Sie muss sich darin einfinden, zu einem sich selbst strukturierenden Prozess zu werden, der stabilisierende und unterstützende Wirkung für alle Systeme entfalten und eine Funktion für die Gesellschaft übernehmen kann.

Das braucht natürlich viel Zeit und viel Kommunikation.  - Haben wir, oder hat die Gesellschaft diese Zeit, oder droht die Autopoiesis moralischer Kommunikation vorher zu versiegen? - Dass die Autopoiesis am Ende versiegt, kann man wohl ausschließen. Solange Menschen danach verlangen, menschlich behandelt zu werden, statt unter der Gesellschaft zu leiden, werden moralische Forderungen gestellt. Die Liste der Baustellen, an denen gefordert und gearbeitet wird, ist lang: Hong-Kong, Fridays for Future, Black-Lives-Matter, Refugees-Welcome, u.v.m.

Lieber Joachim,

ja, jetzt wird es tatsächlich spannend. Dein Rückgriff auf tausende Jahre von Moralgeschichte und -philosophie kann kein Kriterium sein, denn viele historisch stabilisierende Konstrukte haben sich irgendwann in der gesellschaftlichen Evolution auf einmal, aber dann nachhaltig geändert. So wird heute nicht mehr die Existenz eines Gottes vorausgesetzt oder angenommen, aber es bleibt jedem freigestellt, an einen zu glauben. Damit ist dieses tausende Jahre alte Konstrukt oder Problem nun ein für alle Mal gelöst. Mit der Ausdifferenzierung des Rechtssystems ist etwas Vergleichbares bzgl. der Moral geschehen, sie wurde nachhaltig durch die Autopoiesis Recht/Unrecht entlastet.

Menschlichkeit und Würde sind ja beides Wertbegriffe und da Werteunterstellungen lediglich über die Unterstellung, dass andere die eigenen Werteinschätzungen genauso beurteilen, funktionieren und so keine Verständigung über diese Werte oder gar Wertprioritäten ermöglicht, ist ihr Potential bei der Selbstbeobachtung der Gesellschaft eher begrenzt. Auf Grund ihrer zwar über Unterstellung angenommenen, aber eben nicht vorhandenen Eindeutigkeit sind Werte als Erfolgsmedien quasi ausgeschlossen. Neben dem ersten Lackmustest des Erfolgsmediums bleibt dann noch der zweite Lackmustest der Frage nach der Funktion, die das imaginierte Moralsystem exklusiv für die Gesellschaft erfüllen soll.

(Der Text wurde redaktionell gekürzt. JF)

Herzliche Grüße
André

Lieber André,

die Vielzahl der Argumente und die Kürze der Zeit zwingt mich, die Antworten etwas stichpunktartiger ausfallen zu lassen.

„Dein Rückgriff auf tausende Jahre von Moralgeschichte und -philosophie kann kein Kriterium sein, denn viele historisch stabilisierende Konstrukte haben sich irgendwann in der gesellschaftlichen Evolution auf einmal, aber dann nachhaltig geändert.“

Aber es gibt eine klärungsbedürftige Unwahrscheinlichkeit an, wie eine Tradition sich über mehrere Jahrtausende und verschiedenste Umweltbedingungen fortsetzen kann. Deswegen wäre es gut, wenn Du zu Deiner These diese stabilisierenden Konstrukte als Argumente hinzufügen könntest. Meine Vermutung ist, dass wir damit meiner These, bzw. einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium näher kommen würden.

So wird heute nicht mehr die Existenz eines Gottes vorausgesetzt oder angenommen, aber es bleibt jedem freigestellt, an einen zu glauben. Damit ist dieses tausende Jahre alte Konstrukt oder Problem nun ein für alle Mal gelöst.

Und im Jahr 2000 n. Chr. erscheint dann Niklas Luhmanns „Die Religion der Gesellschaft“ worin die Religion als Kommunikationssystem beschrieben wird.

Menschlichkeit und Würde sind ja beides Wertbegriffe …

Das würde ich verneinen und darum bitten, meiner Deutung zu folgen. Ich habe „den Menschen“ als Symbol gemeint, als ein beobachtbares Vorkommnis in der Umwelt der meisten Kommunikationssysteme. Der Bezug auf den Menschen und darauf, z.B. dass es sich bei Alter und Ego um Menschen handelt, würde die moralische Kommunikation einleiten und das, worum es geht, klarstellen.

Neben dem ersten Lackmustest des Erfolgsmediums bleibt dann noch der zweite Lackmustest der Frage nach der Funktion, die das imaginierte Moralsystem exklusiv für die Gesellschaft erfüllen soll.

Diese Antwort meine ich schon gegeben zu haben. Den Menschen nicht als Vorkommnis in der Umwelt anzuerkennen oder zu übergehen, führt zur Destabilisierung: Unzufriedenheit, Vertrauensentzug und Unruhen. Moralische Kommunikation kann dem vorbeugen.

Liebe Grüße
Joachim

Lieber Joachim,

vielen Dank für Deine Antwort, die Diskussion ist überaus spannend und ich möchte auf ein paar Deiner Fragen konkret antworten.

… wenn Du zu Deiner These diese stabilisierenden Konstrukte als Argumente hinzufügen könntest.

Hier möchte ich noch mal auf das stabilisierende Argument weiter oben hinweisen, dass Moralcodes in allen Funktionssystemen und der Gesellschaft mitlaufen und mit dem Regel/Ausnahme-Schema auch eine wichtige Funktion erfüllen: Bestechung in der Politik, Plagiate in der Wissenschaft etc.

… worin die Religion als Kommunikationssystem beschrieben wird.

Das würde ich auch nie bestreiten, aber die Religion hat eben mit Transzendenz/Immanenz auch ein Erfolgsmedium.

Den Menschen nicht als Vorkommnis in der Umwelt anzuerkennen oder zu übergehen, führt zur Destabilisierung: Unzufriedenheit, Vertrauensentzug und Unruhen. Moralische Kommunikation kann dem vorbeugen.

Ja, nur weil die systemtheoretische Analyse Moral nicht als funktional ausdifferenziertes Subsystem beschreiben kann, heißt es ja nicht, dass Moral ausgedient hat. Allerdings führt, wie Luhmann im Interview ja ausführt, das Moralisieren oft zur Eskalation und zum Kommunikationsabbruch, da man sich ja gegenseitig die Würde abspricht. Aus diesem Grund wäre es eben hilfreich, wenn man genau bestimmen würde, bei welchen Konflikten die Einführung von Moral eben sinnvoll und bei welchen dies eben auch nicht ist. Er selbst schlägt in diesem Zusammenhang in späteren Schriften übrigens eine nicht-überzeugte Art und Weise der Kommunikation vor, bei der es eben mehr ums Irritieren als Überzeugen geht.

Herzliche Grüße
André

Lieber André,

nachdem ich jetzt (wieder zu Hause) recherchiert habe, bin ich auch zu der Einsicht gelangt, dass sich unserer Positionen einander annähern lassen. Das geht in dieselbe Richtung, wie Deine Anregung der nicht-überzeugten Kommunikation.

Luhmann hat ja in der Habermas-Kontroverse an dessen Theorie des kommunikativen Handelns kritisiert, dass soziale Utopien kein Bestandteil einer soziologischen Theorie sein könne. Die soziale Utopie besteht in der Idee einer auf Vernunft gegründeten Gerechtigkeit oder Moralität. Moral kann aber nicht rational ausgearbeitet und ein-für-allemal kodifiziert werden, sie kann aufgrund der Vielzahl von Perspektiven und historischen Situationen allenfalls temporär einen vernunftbasierten Konsens erzielen. Damit hat Luhmann die Moral aus dem Kreis der Grundlagen der Soziologie verbannt und in den durch Beobachtung zu erschließenden Gegenstandsbereich verschoben.

Das war zu der Zeit eine völlig ungewöhnliche und schwer zu verarbeitende Kritik, denn das moralische Urteilen und Verurteilen, wodurch sich überall in der Gesellschaft verhärtete Fronten wie Risse durch die Gesellschaft zogen, war derzeit eine regelrechte Blockade der Kommunikation. Geschäftsleute und Politiker wurden als Mörder und Diebe beschimpft, weil man sich mit moralischen Urteilen und der Verteilung der Pflichten sehr sicher fühlte. Dem hat Luhmann den Wind aus den Segeln genommen und die Notwendigkeit aufgezeigt, Kritik an sozialen Missständen in wirtschaftlich und politisch tragbare Programme zu transformieren. - Moral oder soziale Utopien haben darin aber nach wie vor eine orientierende Funktion, nur dass man sich der historischen und perspektivischen Relativität bewusst werden und sich aktiv in die Konsensfindung einbringen muss, statt nur vom Richterstuhl der Vernunft alle mit Missachtung zu überziehen.

Wir haben bisher den Begriff „Utopie“ aussen vor gelassen. Wenn Luhmann schreibt, dass Moral auf sozialen Utopien beruht, die den Zustand einer perfekten Welt beschreiben, dass zwischen verschiedenen Utopien unvereinbare Widersprüche bestehen bleiben und eine perfekte Welt oder die beste aller Welten (im Sinne von Thomas Morus) nicht möglich ist usw. Wenn Luhmann also so schreibt (GdG, S. 396ff), könnte man denken, dass er mit dem Begriff „Utopie“ die Moral damit vollends abwerten wolle, weil Utopien nicht wirklich - nicht einmal möglich sind. Ich denke nicht, dass das seine Absicht war.

Die Vorstellung einer Welt als Utopie zu bezeichnen, ist nicht zwangsläufig abwertend, sondern kann auch positiv oder anerkennend gemeint sein. Soziale Utopien als solche sind real. Auch wenn es nur Fiktionen sind, werden sie geteilt, gemeinsam weiterentwickelt, in geltendes Recht umgemünzt aber auch wieder aufgegeben.

Luhmanns „Liebe als Passion“ bietet hier eine gewisse Äquivalenz, bezogen darauf, dass es bei der Kommunikation im sozialen System Liebe darum geht, in der Welt des anderen vorzukommen. Die Liebeskommunikation beruht auf  hochgradig fiktionalen Sinnressourcen, Einbildungen, die als solche real sind und  eine orientierende Wirkung in der Kommunikation entfalten.

Ich glaube, dass das die Auflösung unserer Diskussion über Moral in der Systemtheorie sein könnte, in die Deine Kritik eingang findet, sowie mein Optimismus, dass sich Moral als operativ geschlossenes, autopoietisches System beschreiben lässt: Im Medium der Utopie.

Was hältst Du davon? Konvergiert das in Deine Denkrichtung?

Liebe Grüße
Joachim

Lieber Joachim,

das ist eine sehr schöne Synthese, der ich mich anschließen kann. Ich kann nicht beurteilen, wie Luhmann ganz persönlich zu gesellschaftlichen Utopien stand – vermutlich skeptisch, denn aus seiner Systemtheorie hat er sie weitestgehend verbannt. Aber vielleicht waren ihm ja gesellschaftliche Utopisten ganz sympathisch.

Das war zu der Zeit eine völlig ungewöhnliche und schwer zu verarbeitende Kritik, denn das moralische Urteilen und Verurteilen, wodurch sich überall in der Gesellschaft verhärtete Fronten wie Risse durch die Gesellschaft zogen, war derzeit eine regelrechte Blockade der Kommunikation. Geschäftsleute und Politiker wurden als Mörder und Diebe beschimpft, weil man sich mit moralischen Urteilen und der Verteilung der Pflichten sehr sicher fühlte.

Was Du über die Zeit der Habermas/Luhmann-Kontroverse beschreibst, beobachte ich heute mindestens ebenso durchmoralisiert und eskalierend. Kein Wunder, die Probleme sind noch einmal deutlich komplexer geworden als damals: Globalisierung, Klimawandel usw. Ich beobachte auch, dass über politische Utopien immer mehr als „Lösungen“ in einer Art und Weise diskutiert wird, als wäre es nur eine Frage der „kollektiven Vernunft“, diese umzusetzen. Luhmanns Systemtheorie kann hier als Beschreibung der komplexen Gesellschaftsmechaniken – ich verwende ich bewusst einen sehr technizistischen Begriff – sowohl für heilsame Ernüchterung sorgen und gleichermaßen auch Lösungsansätze aufzeigen, wie konkret kommunikativ gehandelt werden kann.

Dem hat Luhmann den Wind aus den Segeln genommen und die Notwendigkeit aufgezeigt, Kritik an sozialen Missständen in wirtschaftlich und politisch tragbare Programme zu transformieren.

Genau das meine ich, die Gesellschaftsmechanik erkennen und dann an den geeigneten Stellen mittels Kommunikation irritieren. Aber nicht die eigenen Utopien auch gleich als „Lösungen“ verstehen, die dann nur alle vernünftigerweise umzusetzen haben. Die „Lösungen“ im Sinne einer Evolution können dann nur aus den Funktionssystemen selbst kommen und aus der Umwelt kann man darauf keinen direkten Einfluss haben.

Herzliche Grüße
André

Joachim, ich komme noch mal auf Deine These, dass sich die Moral der Gesellschaft als autopoietisches Kommunikationssystem beschreiben lässt, zurück. Im Fragenteil seines Vortrags The Closure of the Legal System geht Niklas Luhmann am Beispiel der Massenmedien auf einen ganzen Kriterienkatalog zur Entscheidung der Frage, ob es sich um ein autopoietisch geschlossenes System handelt oder eben nicht, ein.

An Minute 1:07:25 wird er dann explizit nach dem Moralsystem gefragt und gibt noch ein weiteres Kriterium an, auf das wir in unserer Diskussion nicht eingangen sind. Wenn also eine spezifische Funktion für die Gesellschaft, ein eigener binärer Code und die weiteren Kriterien vorliegen, dann ist es zusätzlich noch entscheidend, dass dieser Code ausschließlich in diesem System und nicht in seiner Umwelt, also bspw. anderen strukturell gekoppelten Sytemen oder der Gesellschaft, verwendet wird. Und genau mit diesem Kriterium schließt er für sich ein Moralsystem aus, denn der moralische Code gut/böse wird ja nicht explusiv im Moralsystem, sondern auch in der Gesellschaft oder in ihren Subsystemen verwendet. Vielleicht ist das als Nachtrag ja ganz interessant.

Zu Luhmanns Verhältnis zur Moral noch eine weiterführende Buchempfehlung: Werner Stegmaiers "Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche“ (De Gruyter, Berlin, 2016); insbesondere das Kapitel „Bindungen der Orientierung: Nietzsches und Luhmanns Begrenzungen der Moral und Befreiung der Ethik“ (Seite 235-271). Luhmann hat sich zwar m.W. nie direkt auf Nietzsche bezogen (vermutlich weil er zu wenig Theorie bei ihm fand), aber Werner Stegmaier zeigt in seinem Buch vergleichend, dass beide mit ähnlichen Argumenten vor der Moral warnten.

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